13. König Odo

[51] Aus dem Kloster hallen Glocken,

Tausend Lichter funkeln helle,

Die den Zug der Beter locken

Nach der hohen Kirchenschwelle.


König Odo kommt gefahren,

Hört vom alten Turm Geläute,

Und er fragt die frommen Scharen:

Aber welch ein Fest ist heute?


Sie erwidern drauf und sagen:

Eine Jungfrau nimmt den Schleier,

König Odo springt vom Wagen,

Tritt hinein und schaut die Feier.


Um den heiligen Brauch zu wehren,

Ruft er aus am Hochaltare:[51]

Keine Schere soll versehren

Diese langen, blonden Haare!


Über diese feuchten Blicke

Möge nie ein Schleier fallen,

Und kein härnes Kleid ersticke

Dieser Brust gelindes Wallen.


Reißend vom Altar die Reine,

Trat er nun hervor und tobte:

Christus werde nie der Deine,

König Odos Anverlobte!


Frevelvoll und voll von Wonne,

Selig im erbotnen Tausche,

Neigt sich die betörte Nonne

Seinem schönen Liebesrausche.


Als die Nacht begann zu schauern

Um die Stunde der Gespenster,

Zitterten des Schlosses Mauern,

Und es flogen auf die Fenster.


Bebend sahn empor die Gatten,

Und ans goldne Lager beider

Trat ein weißer Zug von Schatten,

Angetan in Nonnenkleider.


Alle hielten rote Kerzen,

Welche blau und düster flammten,

Und die junge Braut vom Herzen

Rissen sie dem Gottverdammten.


Hülfe ruft er, greift verwegen

Zur geschliffnen Wehr im Grimme;

Aber ihm versagt der Degen,

Aber ihm versagt die Stimme.


Und das Mädchen ziehn am Haare

Jene fort, das arme, bleiche,

Legen dann auf eine Bahre

Die lebend'ge, schöne Leiche.
[52]

Und der König folgte bange,

Seiner Sinne halb nur mächtig:

In der Kirche Säulengange

Hielt der lange Zug bedächtig.


An des Altars hoher Schwelle

Tut ein Grab sich auf mit Grauen,

Ausgehöhlt, gespenstig schnelle,

Von den weißvermummten Frauen.


Mit Gewalt sein Weib zu holen,

Rafft sich auf im Wahn der Gatte;

Aber unter seinen Sohlen

Dreht sich jede Marmorplatte.


Und er sieht die schönen Glieder

Eingesargt in einem Schreine,

Will hinzu, doch immer wieder

Schwanken unter ihm die Steine.


Und der Schaufeln Ton verstummet,

Stille wird's im Gotteshause,

Nur die Glocke, wenn sie brummet,

Unterbricht die tiefe Pause.


Und das Dunkel weicht, die Sonne

Hebt am Horizont sich steiler,

Man entdeckt das Grab der Nonne,

Und den König tot am Pfeiler.


Quelle:
August Graf von Platen: Werke in zwei Bänden. Band 1: Lyrik. München 1982, S. 51-53.
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