Nr. 143. Der Geisterseher.

[124] Ist auch einmal auf dem Zellerfeld einer gewesen, der ist an einem Sonntage geboren, des nachts zwischen elf und zwölf Uhr; der hat auch Geister sehen können, und wenn er einem begegnet ist des nachts, hat er mit ihm gesprochen. Aber nur mit guten Geistern hat er zu thun gehabt, denn er ist ein[124] frommer Mann gewesen, mit bösen Geistern hat er sich nicht abgegeben. Nun war einmal Fastnacht. Da war er auch in der Kirche. Und wie der Pastor auf der Kanzel stand und legte Gottes Wort aus und sagte, wie ein Bergmann sich verhalten müsse, wenn er Gott lieb und angenehm sein will, da saßen auch zwei auf der andern Emporkirche, dem gegenüber, der hat Geister sehen können. Die schwatzten miteinander und lachten, und hörten gar nicht darauf, was der Pastor sprach. Und hinter ihnen stand der Herr Urian (der da hat Geister sehen können, hat's mit seinen leiblichen Augen gesehen) und hatte eine Kuhhaut und eine große Feder in der Hand. Und mit der Feder schrieb er auf die Kuhhaut alles, was die beiden schwatzten, mit großen Buchstaben, daß es der andere hat lesen können. Wie der Pastor aufhörte zu predigen und das Vaterunser betete und den Segen sprach, hörten die beiden noch nicht auf zu schwatzen und zu lachen; und der Böse konnte es nicht alles auf die Kuhhaut bringen. Da trat er mit dem einen Fuße auf die Kuhhaut und mit den Händen zog er sie an sich, und wie er so zog mit aller Gewalt, rutschte ihm die Kuhhaut unter dem Fuße weg. Da fiel der Böse rücklings nieder und streckte die Beine gen Himmel. Das fiel dem Bergmann so ins Lachen, daß er sich nicht halten konnte, und er lachte so laut, daß die ganze Kirche davon schallte. Der Pastor hat ihn aber gleich gesehen und erkannt und hat ihn sich gemerkt, und wie die Leute aus der Kirche gingen, stellte er sich ins Kirchenhaus, wartete, bis der Bergmann herauskam, und sagte zu ihm: er möchte doch ein paar Augenblicke mit ihm gehen, er hätte ein paar Worte mit ihm zu sprechen. Gut das Ding! Wie sie beim Pastor ins Haus getreten waren, ging er mit dem Bergmann gleich auf seine Studierstube und da hielt er ihm Gottes Wort vor, und hielt ihm eine Strafpredigt, die ist aus dem FF gewesen: ob er sich denn nicht der Sünden schäme, daß er sogar an seinem höchsten Feiertage im Gotteshause vor allen Menschen den Segen verspottete. Dafür könne es ihm nun und nimmermehr wohlgehen. Wie der Pastor fertig war, sagte der Bergmann: nun, Herr Pastor, sind Sie fertig? Sagte der Pastor: ja. »So erlauben Sie mir wohl auch, daß ich spreche.« Sagte der Pastor: Wenn[125] er was zu sagen hat, mag er's sagen. Da verzählte ihm der Bergmann alles, was er gesehen hatte und sagte ihm alles wieder, was der Böse auf die Kuhhaut geschrieben hatte, und gab ihm die Hand drauf. Wie das der Pastor hörte, sagte er gleich zu ihm, so möchte er ihm doch den Gefallen thun und nur noch ein paar Augenblicke verziehen; und schickte hin und ließ die beiden rufen. Wie sie kamen, ließ er den Bergmann in das Nebenzimmer treten. Darauf fragte er die beiden, was sie heute Morgen unter der Predigt gesprochen hätten. Da sagten die beiden, sie hätten nicht gesprochen. Fragt er sie noch einmal, ob sie leugnen könnten, daß sie gesprochen hätten, und sagt ihnen alles wieder, was sie gesprochen haben. Aber sie blieben dabei, sie hätten nicht gesprochen. Da machte der Pastor die Thür auf, und der Bergmann, der da hat Geister sehen können, trat in die Stube und sagte so und so, das und das, und verzählte auch, wie's der Böse gemacht. Da erschraken die beiden und bekannten, und nun wollten sie es auch in ihrem Leben nicht wieder thun. Da war's gut, und der Pastor gab ihnen noch manche gute Lehre mit auf den Weg. Den andern Sonntag saß der Bergmann, der ein Sonntagskind war, wieder in seinem Stuhle und gegenüber saßen die beiden anderen. Wie der Pastor auf der Kanzel stand und legte Gottes Wort aus, richtig stand wieder der Böse hinter den beiden und hatte seine Kuhhaut und seine große Feder. Aber die Bergleute sprachen kein Wort und hörten aufmerksam zu. Und wie der Pastor das Vaterunser betete und den Segen gab, beteten sie recht andächtig mit. Da nahm der Herr Urian seine Kuhhaut zwischen die Zähne und zerriß sie, und seine Feder zertrat er mit den Füßen und stürzte wütend durch den Gang und die Treppe hinunter und zur Kirche hinaus. Und alle Menschen haben den Lärm gehört, aber keiner hat gewußt, wo er herrührte. Aber der da hat Geister sehen können, hat alles gesehen und hat's nachher oftmals verzählt.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 124-126.
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