Nr. 144. Die Stiefmutter.

[126] Einem Bergmanne ist seine Frau bei ihrem zweiten Kinde im Kindbette gestorben. Er hat aber bald darauf wieder geheiratet.[126] Aber die Stiefmutter ist mit den beiden Kindern ganz unbarmherzig umgegangen. Das ältere hat sie gepeiniget mit Arbeit, die es noch nicht hat verrichten können, und hat ihm die Nahrung vorenthalten, und wenn das arme Kind nicht hat thun können, was die Stiefmutter gewollt, so hat es Schläge, aber nichts zu essen bekommen und oft hungrig zu Bette gehen müssen. Dem kleinsten Kinde hat aber die Mutter keine Nahrung gegeben, hat's auch nicht gewartet und nicht reinlich gehalten, in der Meinung, es solle auf diese Weise sterben. Aber das kleine Kind ist ihr zum Trotze gediehen. Als einmal auch das ältere Kind nichts zu essen bekommen, aber desto mehr Schläge, hat es geweinet und gejammert und ganz laut gerufen: Ach Mutter! Mutter! ach meine liebe Mutter! Da sprang die unbarmherzige Mutter auf das Mädchen los, um es noch mehr zu schlagen; indem that die kleine einen lauten Schrei, flog auf den Vater zu und zog ihn hinter sich her, daß er hinter den Ofen sehen mußte, wo die Wiege stand. Und da sah er, wie bei der Wiege seine verstorbene Frau saß und das Kind im Arme hatte und es säugete mit ihrer Brust. Die Stiefmutter aber, wie sie das sah, erschrak fast zu Tode, bat das arme geschlagene Mädchen um Verzeihung und es möge doch in Zukunft nur nicht seine Mutter rufen, und sie ist seitdem eine gute Mutter für die Kinder geworden, und da hat auch der Geist der Mutter Ruhe gehabt und hat sich nicht wieder sehen lassen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 126-127.
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