Nr. 164. Das Schloß im Gerlachsbache.

[159] Da wo jetzt hinterm Glockenberge und unterm Röhrenteiche im Gerlachsbache der große Bruch ist, soll früher, so erzählen die Alten, ein mächtiges Schloß gestanden haben,[159] welches aber keinem Ritter oder Grafen, sondern einer unverheirateten Frau gehöret haben soll, die in der Umgegend nur schlankweg die Schloßfrau gehießen hat. Sie hat ihren Gefallen daran gehabt, Frauen und Mädchen, die sich auf der Landstraße haben blicken lassen, einzufangen und in ihr Schloß, das mit hohen Mauern umgeben gewesen ist, zu sperren. Die Zahl der Eingefangenen ist schon sehr beträchtlich gewesen. Einst haben ihre Spione auf der Landstraße ein Hirtenmädchen aufgefangen und zu der Herrin aufs Schloß gebracht. Aber das Hirtenmädchen ist dem heiligen Antonius geweihet gewesen. Da nun jede eingefangene Frau ihre bestimmte Beschäftigung gehabt hat, und die eingefangenen Mädchen ihrer Herrin haben aufwarten müssen, so hat die Schloßfrau dem Hirtenmädchen einen Kasten mit Schlüsseln und dazu noch ein großes Bund Schlüssel umgehänget, damit diese ihr gleich zur Hand wären, wenn sie selbst ihrer bedürfte. Das Schloß hat ein Garten umgeben, da hinein haben die eingefangenen Mädchen nach einiger Zeit wohl gehen dürfen, aber nicht durch ein Thor hinaus ins Freie, das in der Gartenmauer gewesen ist. An allen Ecken und Enden haben Spione und Schildwachen gestanden, damit, wenn ja einmal eine Gefangene eine Miene zum Entfliehen hätte machen wollen, sie gleich wieder hat zurückgeholet werden können. Eines Abends ist das Hirtenmädchen auch in den Garten gegangen und hat sich in eine Laube desselben gesetzet. Hier knieet es nieder und rufet den heiligen Antonius an, es doch aus dieser Knechtschaft zu befreien. So wie es ausgeredet hat, kömmt ein kleines graues Männchen daher und fraget das Mädchen, was es denn weinte und was ihm denn eigentlich fehle? Das Mädchen antwortet hierauf: ihm erginge es hier sehr übel, denn es wäre von seinen Eltern genommen und auf dies Schloß gebracht worden, wo es nun in der Gefangenschaft schmachten müsse. Es habe soeben den heiligen Antonius angerufen, daß derselbe es aus dieser Gefangenschaft erlösen möchte. Da sagt das graue Männchen: »Ich bin der heilige Antonius; ich habe dein Flehen wohl gehöret und deine Bitte soll dir auch gewähret werden. Du und alle Eingefangenen, ihr sollet von dieser Stunde an frei[160] sein, aber das Schloß mit allen seinen Reichtümern und Kostbarkeiten soll untergehen und die Schloßfrau soll, zur Strafe für ihre Missethat, deine Bürde, die du getragen hast, tragen und vierhundert Jahre auf diesem Berge (und hiermit soll er auf den nahe bei dem Schlosse gelegenen Glockenberg gezeiget haben) mit dieser Bürde walten gehen. Eher soll sie von Gott nicht erlöset werden; wenn aber eine reine unschuldige Jungfrau aus Barmherzigkeit ihr die Bürde abnimmet, so soll sie doch vor Gott Gnade finden und vor ihrer Zeit noch erlöset sein.« Wie der heilige Antonius dies ausgesagt hat, da thuts auf einmal einen Knall und das Schloß samt seinen Gärten und Mauern ist von der Erde verschwunden. An seiner Stelle ist jetzt ein großer Bruch. Alle Eingefangenen sind auch von diesem Augenblicke an in ihre Heimat versetzet gewesen; aber die Schloßfrau stehet auch in demselben Augenblicke, da dies geschehen, verwünschet auf dem Berge, einen Kasten vor sich tragend und ein großes Bund Schlüssel daran.

Nun hat sie aber, wenn ihr Menschen begegnet sind, was öfters der Fall gewesen ist, weiter nichts sagen dürfen, als: »Huk up, huk af.« Viele, die sie gesehen haben und ihr begegnet sind, aber nicht gewußt haben, was dieses »Huk up, huk af« zu bedeuten gehabt hat, sind vor dieser unheimlichen Gestalt geflohen; sie aber hat keinem Menschen etwas zu Leide gethan.

Von Zeit zu Zeit hat sich nun das untergegangene Schloß wieder auf der Erde sehen lassen, ist aber dann bald darauf wieder verschwunden. Wer so glücklich gewesen ist, dies zu sehen, der hat nur etwas von seinem Zeuge, seine Mütze, Hut oder sonst etwas, oder was er gerade in der Tasche gehabt hat, darauf zu werfen gebraucht, dann ist das Schloß stehen geblieben und hat jenem dann als Eigentum gehöret.

Einstmals hat in der Nähe ein Köhler gekohlet. Dieser hat zwei Mädchen gehabt, welche Wasser zugetragen haben. Eines von diesen kömmet nun und will aus der Tränke im Thale Wasser holen. Es siehet sich einmal um und da vor ihm stehet ein großes mächtiges Schloß mit Gärten und[161] Mauern. Wie es dies siehet, lässet es gleich seine Eimer stehen und läuft, erschreckt über diese Erscheinung, so schnell als möglich zu seinem Vater und verzählet ihm, daß da im Thale ein großes schönes Haus stände, was es früher da nicht gesehen habe (denn es hat von der ganzen Geschichte nichts gewußt). Gleich fragt der Köhler, ob es denn nichts darauf geworfen hätte, und als das Mädchen dies verneinet, da giebt er ihm eine Ohrfeige und schilt es kurz und lang aus. Dies ist aber das letzte mal gewesen, daß das Schloß wieder zum Vorscheine gekommen ist. Wäre das Köhlermädchen nun hingelaufen und hätte etwas daraufgeworfen, so hätte ihm das Schloß gehöret.

Die Jungfrau mit den Schlüsseln (so ist sie immer genannt worden) hat ihre Zeit aber müssen durchwalten. Viele haben sie gesehen und sind ihr begegnet, ja, selbst Alte, die ich noch gekannt habe, behaupteten, sie gesehen zu haben. Einer, namens F...., behauptete steif und fest, daß, als er eines Sonntags morgens im Kirchenholze Weden bei einem Feuer gedreht und sich einmal aufgesehen habe, die Jungfrau mit den Schlüsseln vor ihm gestanden hätte.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 159-162.
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