Nr. 102. Die weiße Jungfer von Harzburg.

[64] Die weiße Jungfer, die in dem Burgbrunnen wohnet, ist schon vielen erschienen. Einstmals haben die Kinder einen ihrer Gespielen in den Brunnen gelassen und sind dann fortgelaufen, weil die Stunde geschlagen hat, wo sie in den Pfarrunterricht gemußt haben. Weil die Kinder nun so verstört gewesen sind, so hat der Pfarrer gleich gemerkt, daß etwas vorgefallen ist. Da haben sie's müssen sagen und der Pfarrer ist mit anderen Leuten auf den Burgberg geeilet und haben den Knaben wieder heraufgewunden, der aber ist halb tot gewesen und hat die Jungfer auch gesehen. Oft hat die Jungfer an einem Twisselsbeerbaum über Ruhsacks Wiese an der Ostseite des Burgberges gestanden. In den Grasgärten, die um den Burgberg herumliegen, und auf den Wiesen am sogenannten Krodobrink hat man sie oft mähen sehen. Fast immer ist sie in der Freitagsnacht erschienen, und die Leute in Schulenrode pflegen zu sagen (wie man auch im Halberstädtischen sagte):


Die ganze Woche wunderlich,

Der Freitag ist absunderlich.


Einmal ist die Jungfer in drei Freitagsnächten hintereinander in Schulenrode vor ein Fenster gekommen und hat einen jungen Burschen mit nach der Schöppenstedtergrund haben wollen, damit er dort einen Schatz heben sollte. In der dritten Nacht hat der Bursche gesagt: »Wenn ich meinen Bruder Valentin mitnehmen soll, so will ich mitgehen.« Da hat sie vor dem Fenster einen Seufzer gethan und ist verschwunden. Die Leute selbst, vor deren Fenster dies geschehen ist, sagen, die Jungfer hätte beim Weggehen gesprochen: Nun wäre das Kindeskind noch nicht geboren, welches das Geld einmal heben könnte. – Auf dem Sintinnigsplatze (Sankt Antoniusplatze) hat die Jungfer auch einmal gesessen und einem Köhler eine Blume gegeben. Wie er die Blume gehabt hat, führete sie ihn in eine Höhle in den Berg, und darinnen füllt sie ihm seinen Holster, sagt ihm aber, er solle den Holster nicht eher öffnen, bis er über das Wasser wäre. Als der Köhler aus der Höhle gehet, hat er die Blume darin liegen[65] lassen, und da schlägt die Thür hinter ihm zu, daß ihm beinahe die Hacken abgeschlagen wären. Hätte er die Blume mitgenommen, so hätte er noch oft in die Höhle gekonnt. Auch hat er nachgesehen, was in dem Holster war, bevor er übers Wasser gewesen ist, und da ist es lauter Pferdemist gewesen. Was aber in den Ecken sitzen geblieben ist, das ist nachher, wie er übers Wasser gewesen ist, eitel Gold gewesen. – Diese Jungfer ist immer weit am Burgberge herum gesehen worden, aber ihr eigentlicher Aufenthaltsort ist nur der Brunnen gewesen. Einer, dem sie auch erschienen ist, hat erzählt, daß Sturm und ein gewaltiges Windbrausen von ihr ausgegangen wäre. Einige sagen auch, daß aus der Jungfer später ein weißer Spitzhund geworden wäre, der sei auch immer in der Freitagsnacht auf den Wiesen um Schulenrode herum gesehen worden. Andere sagen, die weiße Jungfer aus dem Burgbrunnen erscheine noch jetzt.

Im Radauthale an der Köhlerlochsbrücke steht ein Ulmenbaum, dabei ist auch eine Jungfer erschienen, man weiß nicht, ob es die aus dem Burgbrunnen gewesen ist, aber sie ist ganz so gewesen wie diese. Die hat gewollt, daß die Frau sich hinsetzen und sie erlösen sollte. Da hat die Frau sich hingesetzt und die Jungfer hat sich in einen Lork verwandelt, ist an der Frau in die Höhe geklettert und hat sie küssen wollen, als aber der Lork der Frau bis an die Brust kommt, erschrickt sie so, daß sie davonläuft. – Ein andermal ist im Radauthale, den Steinbrüchen gegenüber, eine Köhlerfrau gegangen, da ist deutlich das Wasser aus der Radau hinter ihr hergekommen wie eine große Flut, und da hat da eine Jungfer gestanden mit blauem Licht und hat erlöst sein wollen. Die Köhlerfrau aber ist auch davongelaufen. – Auch als in Neustadt unter dem Burgberge ein Haus neben dem Chausseehause gebaut ist, hat sich da unweit einer Linde eine blaue Jungfer und ein Licht gezeigt, und man meint, daß vielleicht vom Burgberge herunter Schätze dahin »gerückt« sind. – Endlich wird erzählt, daß am Breitenberge beim Papenberge ein Brunnen ist, da ist einmal Gerste herausgequollen, und als eine Frau die Gerste für ihre Hühner mit nach Haus genommen hat, ist es Geld gewesen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 64-66.
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