Nr. 104. Der Schlangenkönig oder die Königsschlange.

[67] Es ist einmal ein Mann, der einen Mantel umgehabt hat, zu Pferde in eines der Dörfer um die Harzburg kommen und hat einen Mann mitgenommen, mit dem er auf den Burgberg gestiegen ist. Der Fremde hat auch ein Schächtelchen oder ein Kästchen bei sich gehabt. Als nun die beiden auf dem Burgberge gewesen sind, hat er einen Kranz auf dem Boden beschrieben und hat dann gepfiffen. Da sind unzählige Schlangen angekommen und haben die Köpfe um den Kreis herum gelegt, in dem die beiden Männer gestanden haben. Nur die weiße Schlange oder der Schlangenkönig ist lange ausgeblieben, und der Fremde hat zu dem andern gesagt: er läßt auf sich warten. Endlich kommt die weiße Schlange an mit zwei anderen großen Schlangen. Da sagt der Fremde zu der weißen Schlange, welche die Krone auf dem Kopfe gehabt hat: »Du alter Bengel hast viele Thaten gethan,[67] ich will sie dir aber auch thun.« Vor ihr aber hat er in dem Kreise ein rotes Tuch ausgebreitet gehabt, darauf hat der Schlangenkönig oder die Königsschlange ihre Krone abgelegt, das ist ein kleiner gelber Knoten gewesen. Darauf hat die weiße Schlange, vielleicht mit den anderen beiden Schlangen, in das Kästchen gemußt. Nun hat der Fremde zu seinem Begleiter gesagt: wenn sie erst aus dem Kreise herausträten, so wäre große Gefahr vorhanden, und sie müßten eilen, daß sie den Burgberg herunter kämen. Dann hat er einen Stab genommen, hat die Schlangen, die in dem Kreise herumgelegen haben, damit berührt, und die haben so weit zusammenrücken müssen, daß die beiden Männer bequem hindurchgehen konnten. Als sie aber aus dem Kreise heraus und erst eine kleine Strecke weit fort sind, kommen alle die Schlangen, die um den Kreis herum gelegen haben, ihnen nachgeschossen. Unten, wo der Burgberg ziemlich zu Ende ist und schon die Gärten und der Kirchhof von Neustadt anfangen, haben die sie schon eingeholt. Da hat aber der Reiter geschwind seinen Mantel abgeworfen, und da sind alle Schlangen hinein gefahren. Am anderen Tage ist der Mantel in lauter Fäden zerrissen gewesen, und mehrere Schlangen haben da gelegen und sind von ihrem Gifte geplatzet.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 67-68.
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