Nr. 219. Der verwiesene Förster Kempf.

[210] In dem Harzdorfe Sieber lebte vor vielen Jahren einmal ein Förster mit Namen Kempf, der war sehr hart und unbarmherzig gegen seine Waldarbeiter. Wenn die Leute um Lohnerhöhung baten, dann erhielten sie zur Antwort: »Ich will euch noch züchtigen, daß ihr pfeifen sollet wie die Mäuse, und Heu fressen wie die Kühe.« Aber er mußte auch für diese Härte büßen; Läuse und Flöhe ließen ihm Tag und Nacht keine Ruhe, bis er starb. Kurz vor seinem Tode hat er auch ein Mädchen über einen Ameisenhaufen an einem Baume festgebunden und so haben die Ameisen sie zu Tode gequälet. Nach seinem Tode hat er auch keine Ruhe gefunden, das zeigte sich schon bei seiner Beerdigung. Als sein Leichenzug sich von der Försterwohnung nach dem Kirchhofe bewegte, sahen sich einige von den Trägern um, da sahen sie, daß der Förster Kempf aus der Dachluke seinem Leichenzuge nachsah. Auch zu spuken hat er sogleich angefangen, unter anderm bei[210] den Fischreusen der Försterei am Sieberflusse, und wenn seine Frau beim Heumachen gewesen, ist er immer hinter ihr hergeschritten. In der Försterwohnung war nichts als Poltern und Spuken, sodaß kein neuer Förster wieder in das Haus ziehen wollte. Was war zu thun? Es wurde ein Pater bestellet, der den Förster verbannen sollte. Der Pater kam; als er aber sein Werk an dem Förster beginnen wollte, sagte Kempf: »Du kannst mich nicht verbannen, denn du bist ein sündiger Mensch, du hast das sechste Gebot übertreten.« Der Pater wußte nichts dagegen zu sagen und zog unverrichteter Sache ab. Darauf wurde ein anderer Pater beordert, als der kam, sagte der Förster wieder: »Du kannst mich nicht verbannen, denn du bist ein sündiger Mensch.« – »Sage an«, sprach der Pater, »was habe ich gethan?« – »Du hast gegen das siebente Gebot gehandelt. Du hast eine Möhre vom Felde gestohlen.« – »Ja,« antwortete der Pater, »ich habe freilich in meinen Schülerjahren einmal eine Möhre aufgezogen, um meinen Durst am heißen Tage damit zu stillen; aber ich habe auch in die dabeistehende Möhre ein Viergroschenstück gestecket, womit die Möhre mehr als bezahlet war.« Da mußte der Förster schweigen und die Verweisung begann. »Erscheine in deiner Jägerkleidung,« sprach der Pater mit harter Stimme. Der Förster aber kam in einer fürchterlichen Gestalt. »Fort!« schrie der Pater, »so will ich dich nicht sehen.« Er mußte fort, kam aber immer wieder in so gräßlicher Gestalt. Zum vierten male kam er endlich heulend und schreiend in seiner Jägerkleidung. »Halt!« rief der Pater, »zwischen der Thüre bleibest du stehen, mit einem Fuße in der Stube, mit einem auf der Diele.« Darauf fuhr er fort: »Ich sage dir, daß du mit dem heutigen Tage dies Haus räumest und deinen Aufenthalt im Roten Meere nimmest.« Nun begann der Förster zu bitten und zu flehen: »Ach, laß mich doch hier, wenns auch nur im Keller ist!« – »Nein.« – »So laß mich im Stalle.« – »Nein.« – »Gieb mir ein Plätzchen auf dem Hühnerwiemen!« – »Nein,« sagte der Pater, »fort mit dir.« Da heulte der Förster fürchterlich. Der Pater aber ließ die Pferde vor seinen Wagen spannen. Als er wegfuhr, sah man eine Schleife hinter dem Wagen[211] des Paters mit Hühnern bespannt, auf der Schleife aber saß heulend der Förster und wurde so in das Rote Meer gebracht, wo er sich noch jetzt aufhalten soll. Im Försterhause aber war es fortan ruhig.

Andere erzählen die Verweisung selbst also. Dem ersten Pater hat Kempf vorgehalten, er sei nicht rein, er habe einmal als Kind eine Rübe auf einem fremden Acker ausgezogen und nicht bezahlet, da hatte der Pater keine Macht über ihn. Es kam ein zweiter Pater, dem hielt Kempf vor, er habe als Kind auf fremdem Acker eine Erbsenschote abgerissen und nicht bezahlet. Da hatte auch der keine Macht über ihn. Einem dritten Pater hielt Kempf vor, er habe als Kind eine Kornähre von fremdem Felde mitgenommen und nicht bezahlet. Der aber sagte, die sei ihm von selbst in den Schuh gefallen, und verwies Kempf ins Rote Meer. Ein Fuhrmann mußte Kempf bis an die siebersche Grenze bringen und der Pater riet ihm, wenn Kempf ihm dort die Hand geben wolle, den Peitschenstock hinzuhalten, und sich dann nach Kutsche und Pferden nicht noch einmal umzusehen. So hat der Fuhrmann auf der Grenze auch gethan, und der Peitschenstock ist sogleich kohlenschwarz gewesen, als Kempf ihn angefaßt hat. Pferde und Wagen aber sind plötzlich mit ihm verschwunden.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 210-212.
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