[Ich kenn' einen alten tauben Mann]

[126] Ich kenn' einen alten tauben Mann,

Gott mög' ihn vom Leiden befreien,

Der, weil er Geschrienes nur hören kann,

Auch selbst nur spricht mit Schreien.


Doch mein sinn'ger stiller Knabe

Lag im Bettchen nächst am Grabe,

Seine Stimme ward nicht heiser,

Aber täglich ward sie leiser.


Niemand achtet' auf den Kranken,

Wo zum Tod hin andre sanken;

Und warum er leise sprach,

Niemand sah und fragte nach.
[126]

In die Ohren, wie sich's trifft,

War getreten der Krankheit Gift;

Was wir sprachen, klang ihm leise,

Und so sprach er gleicherweise.


Leise sprechend, leise leidend,

Leise spielend und sich weidend

An Bildchen, im Dunkel halb gesehn,

Ließ er die Tag' über sich ergehn.


Endlich spricht er wieder laut,

So sind die Ohren aufgethaut;

Weil er lauter höret sprechen,

Will er sich's nun auch erfrechen.


Nun, mit Gott, du wirst gesunden,

Und aus bösen Krankheitsstunden

Bleibe leis bescheidner Sinn

Dir fürs Leben zum Gewinn.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 126-127.
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