[Ein Knöspchen unentfaltet]

[261] Ein Knöspchen unentfaltet

Ist's was der Sturm dir bricht;

Und was daraus gestaltet

Sich hätte, weißt du nicht.


Willst du so stark nun klagen,

So zeigest du dich schwach;

Es wächst in Jahr und Tagen

Wohl eine wieder nach.
[261]

Laßt mich nur immer klagen,

Und nennet mich nicht schwach;

Es wächst in Jahr und Tagen

Mir keine solche nach.


Ihr habt die Knospenhülle

Der Gegenwart gesehn,

Ich sah die Rosenfülle

Der Zukunft vor mir stehn.


Dort eine Hyazinthe

Zog ich im Winterhaus,

Mit bläßlich rother Tinte

Nimmt sie sich kränklich aus.


Doch säh' ich sie gebrochen

Nicht ohne Herzverdruß,

Die doch in wenig Wochen

Von selber welken muß.


Doch die mir im Gemüthe

Hatt' ihrer Wurzeln Grund,

War keine Winterblüthe,

Die Rose war gesund.


Sie sollt' auch nicht auf Wochen,

Sie sollt' aufs Leben blühn;

Und daß sie ward gebrochen,

Sollte mich das nicht mühn?

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 261-262.
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