11.

[146] Ich sehe wie in einem Spiegel

In der Geliebten Auge mich;

Gelöst vor mir ist jedes Siegel,

Das mir verbarg mein eignes Ich.


Durch deinen Blick ist mir durchsichtig

Mein Herz geworden und die Welt;

Was in ihr wirklich und was nichtig,

Ist vor mir ewig aufgehellt.


So wie durch meinen Busen gehet

Hier deines Herzens stiller Schlag,

So fühl' ich, was die Schöpfung drehet

Vom ersten bis zum Jüngsten Tag.


Die Welten drehn sich all um Liebe,

Lieb' ist ihr Leben, Lieb' ihr Tod;

Und in mir wogt ein Weltgetriebe

Von Liebeslust und Liebesnot.


Der Schöpfung Seel' ist ew'ger Frieden,

Ihr Lebensgeist ein steter Krieg.

Und so ist Friede mir beschieden,

Sieg über Tod und Leben, Sieg.


Ich spreche still zur Lieb' im Herzen,

Wie Blume zu der Sonne Schein:

Du gib mir Lust, du gib mir Schmerzen!

Dein leb' ich und ich sterbe dein.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 146.
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