10.

[157] Jetzo blickt sie nach dem Abendrote,

Ob mit ihm erscheinen wird der Bote,

Ihr des Liebsten ersten Brief zu bringen:

»Hättest du doch meiner Sehnsucht Schwingen!«[157]

Und es sinkt die Nacht, der Bote weilet;

Und er kommt, dem sie entgegeneilet.

Und sie hat des Liebsten Brief erhalten,

Säumet, auseinander ihn zu falten,

Muß die Aufschrift, ihren Namen, lesen,

Der ihr selber nie so schön gewesen.

Und nun ruhen auf der Schrift die Augen,

Alle Züge liebend einzusaugen,

Die für sie des Liebsten Hand gezogen,

Jede Zeil' ein Liebesregenbogen,

Jedes Wort ein lichter Stern im Blaue,

Jeder Buchstab' eine Ros' im Taue.

So verschönt zu einer Liebesblüte

Sich das Blatt dem liebenden Gemüte.

Und nun sitzt sie, gleich zu schreiben, nieder.

Gib, o Nacht, dein tauiges Gefieder

Ihrem Blatt, daß mit dem Morgenrote

Mir zurück geflügelt sei der Bote!


Herz! wie soll die Ungeduld ich nennen,

Da von ihr dich nur zwei Tage trennen,

Da von ihr dich trennen nur zwei Meilen,

Daß von ihrer Hand nach zweien Zeilen

Geizest so mit ungestümem Drange?

Was sie schreiben wird, du weißt es lange;

Und sie weiß es wohl, was du wirst schreiben:

Und so könnt' es billig unterbleiben.

Freilich, Neues hat sich nicht begeben;

Doch, daß alles steht beim Alten eben,

Dieses wissen, das sich stets vom neuen

Sagen, kann nur Liebende erfreuen.

Ja, es ist kein andrer Trost geblieben

Zweien, die sich fern sind und sich lieben,

Als der Seele Jubel und die Klagen,

Was der Mund nicht kann dem Munde sagen,

Einem stummen Blatt es anvertrauen,

Schreiben es und es geschrieben schauen.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 157-158.
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