Die Straßburger Tanne

[63] Bei Straßburg eine Tanne

Im Bergforst, alt und groß,

Genannt bei jedermanne

Die große Tanne bloß,

Ein Rest aus jenen Tagen,

Als dort noch Deutschland lag;

Die ward nun abgeschlagen

An diesem Pfingstmontag.


Da kamen wie zum Feste

Zusammen fern und nah'

In ganzen Scharen Gäste,

Und sahn das Schauspiel da.

Sie jauchzeten mit Schalle,

Als niedersank ihr Kranz,

Und hielten nach dem Falle

Im Forsthaus einen Tanz.


Hat einer wohl vernommen,

Was, als die Wurzel brach,

Im Herzen tief beklommen[63]

Zuletzt die Tanne sprach?

Ein Widerhall vernahm es,

Der trug von Ziel zu Ziel

Es weiter, und so kam es

Hier in mein Saitenspiel.


So sprach die alte Tanne:

Ich stehe nun der Zeit

Hier eine lange Spanne

In dieser Einsamkeit,

Von dieses Berges Gipfel

Mich streckend in die Luft;

Es webt um meine Wipfel

Noch der Erinn'rung Duft.


Ich sah in alten Zeiten

Die Kaiser und die Herrn

Im Lande ziehn und reiten;

Wie liegt das heut so fern!

Da mocht' ich wohl mit Rauschen

Sie grüßen in der Nacht,

Und mit den Winden tauschen

Gespräch von deutscher Macht.


Dann kam die Zeit der Irrung,

Des Abfalls in das Land,

Voll schmählicher Verwirrung,

Da ich gar traurig stand;

Es klirrten fremde Waffen,

Es zuckte mir durchs Mark,

Ich sah die Zeit erschlaffen,

Und blieb kaum selber stark.


Den Himmel sah ich säumen

Ein neues Morgenrot,

Es scholl aus fernen Räumen

Der Freiheit Aufgebot;

Ich sah auf alten Bahnen

Die neuen Deutschen gehn,[64]

Die lang entwohnten Fahnen

Vom Rheinstrom her mir wehn.


Da schüttelten die Winde

Mein altes Haupt im Sturm;

Vor Schreck entsank der Rinde,

Der sie genagt, der Wurm:

Nun werden deutsch die Gauen,

Vom Wasgau bis zur Pfalz;

Und wieder wird man bauen

Hier eine Kaiserpfalz.


Doch als das große Wetter

Eilfertig, ohne Spur,

Wie Windeshauch durch Blätter,

Dahier vorüberfuhr: –

Mein Wipfel ist geborsten,

Es wird nicht mehr der Aar

In diesen Forsten horsten,

Der meine Hoffnung war.


Lebt, Adler, wohl und Falken!

Ich fall' in Schmach und Graus,

Und gebe keinen Balken

Zu einem deutschen Haus;

Man wird hinab mich schleppen,

Und drunten aus mir nur

Versehn mit neuen Treppen

Mairie und Präfektur.


Doch, jüngre Waldgeschwister,

Ihr hauchet frischbelaubt

Teilnehmendes Geflister

Um mein erstorb'nes Haupt;

Euch alle sterbend weih' ich

Zu schönrer Zukunft ein,

Und also prophezei' ich,

Wie fern die Zeit mag sein:
[65]

Einst einer von euch allen,

Wenn er so altergrau

Wird, wie ich falle, fallen,

Gibt Stoff zu anderm Bau,

Da wohnen wird und wachen

Ein Fürst auf deutscher Flur;

Dann wird mein Holz noch krachen

Im Bau der Präfektur.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 63-66.
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