2.

[309] Zum Himmel thu' ich jede Nacht den Liebesruf,

Der Schönheit Gottes voll, mit Macht den Liebesruf.

Mir jeden Morgen Sonn' und Mond im Herzen tanzt,

Zu Sonn' und Mond thu' ich erwacht den Liebesruf.

Auf jeder Au' erglänzt ein Strahl von Gottes Licht,

Ich thu' an Gottes Schöpferpracht den Liebesruf.

Die Turteltaub' im Laub, erweckt von meinem Gruß,

Thut mir entgegen girrend sacht den Liebesruf.

Dem Felsen, der zu deinem Preis mit Licht sich krönt,

Zuruf' ich, und er nimmt in acht den Liebesruf.

Dir thu' ich für die Blum' im Feld, die schüchtern schweigt,

Fürs Würmlein, das du stumm gemacht, den Liebesruf.

Das Weltmeer preist mit Rauschen dich, doch ohne Wort;

Ich hab' in Worte ihm gebracht den Liebesruf.

Dir thu' ich als das Laub am Baum, als Tropf' im Meer,

Dir als der Edelstein im Schacht den Liebesruf.[309]

Ich ward in allem alles, sah in allem Gott,

Und that, von Einheitglut entfacht, den Liebesruf.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 309-310.
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