Sieben und Dreyssigstes Kapitel.

[335] Wie die Pforten des Tempels wunderbarerweis von selbst aufgingen.


Am End der Stiegen trafen wir auf ein Portal von feinem Jaspis, ganz nach Dorischer Art und Kunst erbaut und abgetheilt. Vorn auf der Front desselben stund mit Jonischen Lettern vom reinsten Gold der Spruch: En ino alithia, oder: Im Wein ist Wahrheit geschrieben. Beyde Thüren waren massiv aus einer Art Korinthischen Erzes, mit kleinem erhabenen Rankenwerk nach der Sculptur Erforderniß mit Schmelz verziert, und griffen und verfugten sich in ihrem Falz ohn Schloß nach Riegel und sonst ein Band, fest in einander; nur ein Indianischer Demant hing dran, von der Größ einer Aegyptischen Bohn, in obrizirtes Gold gefaßt zu zwey Façetten, von Figur sechseckig in geraden Linien. Auf beyden Seiten, nach der Wand zu, hing eine handvoll Scordium.

Hier bat uns unsre edle Latern sie für vollgültig excusirt zu halten, wenn sie Anstand nähm uns weiter zu führen: blos den Lehren der Priesterinn Bakbuk sollten wir folgen, weil ihr dort selber einzuschreiten, aus allerley besondern Gründen, so erdgeborenen Sterblichen rathsamer zu verschweigen als zu melden, nicht verstattet sey. Doch befahl sie uns jedenfalls im Häuslein und alert zu bleiben, vor nichts zu zittern noch zu beben, und des Rückwegs halber[335] nur auf sie zu bauen. Hierauf nahm sie den Demant von der Thür-Leist ab, und warf ihn rechts in ein dazu expreß befindlich silbern Käpslein; nahm dann vom Angel jeder Thür ein anderthalb klasterlanges karmesinrothseidnes Band, woran das Scordium hing, bands an zwey Rinken, die dazu ausdrücklich an den Seiten hingen, und trat zurück.

Urplötzlich gingen beyde Thüren, ohn daß ein Mensch daran gerührt hätt, von selber auf, und machten im Aufgehn nicht etwa ein knarrendes Getös und schrecklich Thrönen, wie sonst schwere eherne Pforten zu machen pflegen, sondern ein liebliches Gemurmel, so durch die Tempel-Hall erscholl: davon Pantagruel auch bald die Ursach merkt'; denn unterm Rand von jeder Thür entdeckt' er eine kleine Walz, die überm Angel in die Thür griff und, wie die Thür der Mauer zuflog, auf einem harten, völlig gleich und glatt polirten Ophitesstein umlief; da dann durch solche Friction dieß liebliche Gemurmel entstund.

Baß wunder nahm mich wie die beyden Thüren sich so von sich selbst und ohn eines Menschen Druck aufthun konnten. Dieß Wunder näher einzusehn, warf ich, wie wir all drinnen waren, die Augen zwischen Thür und Mauer, begierig zu erforschen welche Kraft oder Werkzeug sie so fest zusamenhielt. Ich dacht es hätt unsre werthen Latern etwann das Kraut Aethiopis an den Verband derselben gelegt, vermittelst dessen alles was verschlossen ist, sich aufthun muß: sah aber daß der Theil woselbst die Thüren in dem innern Falz zusamenschlossen, eine feine in das Korinthische Erz gefugte Stahlplatte war.

Und ferner sah ich zwey Tafeln aus Indianischem Magnetstein, einer halben Hand breit und dick, von Farbe bläulich, glatt und zart geschliffen. Diese waren ihrer ganzen Dicke nach, in die Mauer des Tempels auf dem Fleck wo die ganz offnen Thüren an die Mauer stiessen und sich weiter nicht öffnen konnten, eingelassen.

Also daß nach verborgnem und erstaunlichem Naturgesetz, die stählernen Platten durch die Macht des reissenden Magneten diese Bewegung erlitten, folglich auch die Thüren langsam nachgeführt und gezogen wurden; doch nicht immer, sondern nur wenn man obigen Demant abgenommen, durch[336] dessen Nachbarschaft der Stahl von dem Gehorsam den er dem Magneten von Natur erweist, befreyet und entbunden war: wie auch nach Abnahm der zwey Bündel Scordium, die unsre holde Latern an den rothen Bändern wegzog und loshing, dieweil es den Magneten tödet und seiner Anziehung beraubt. Auf dem einen der Täflein rechterhand stand sauber mit alten lateinischen Lettern der senarische Jambus sculpiret:


DUCUNT VOLENTEM FATA NOLENTEM TRAHUNT.


Das Schicksal führt den Willigen, es zeucht den Widersetzlichen. Auf dem andern linkerhand las ich in majuskulischen Lettern zierlich sculpiret diesen Spruch:


ALL DING NEIGT SICH ZU SEINEM END.

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 2, S. 335-337.
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