Lied einer jungen Ehefrau

[180] Nach dem Englischen.


Wien im April 1785.


Lang warb Alcid um meine Gunst.

Mein Herz zwar schlug ihm laut entgegen:

Allein vertraut mit Amors Kunst,

That ich verschämt, wie Mädchen pflegen.

Wenn er mir schmachtend Liebe schwur,

War ich zum Schein zerstreut und flüchtig,

Und wagt' er auch ein Küsschen nur,

So hiess es: junger Herr, hübsch züchtig!


Vergebens hört' ich ihn betrübt

Dem Schicksal meine Härte klagen;

Denn wenn man noch so feurig liebt,

Man darf's aus Sittsamkeit nicht sagen,[181]

Bat er oft gar zu ungestüm

Um diess und das, so scholt ich tüchtig

Ihn aus, und gab halblächelnd ihm

Die Lehre: junger Herr, hübsch züchtig!


Doch allgemach erhielt Alcid

Mein Herz, nach dem er lang gegeitzet.

Ach aber welch ein Un erschied!

Seit uns der Priester traute, reitzet

Ihn auch die höchste Gunst nicht sehr,

Und sonst war ihm ein Blick schon wichtig.

Nun sträub' ich mich gewiss nicht mehr;

Denn itzt ist er nur allzuzüchtig.

Quelle:
Joseph Franz Ratschky: Gedichte, Wien 1791, S. 180-182.
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