1.

[678] Derselbe große Engel, welcher einst

ihr der Gebärung Botschaft niederbrachte,

stand da, abwartend daß sie ihn beachte,

und sprach: Jetzt wird es Zeit, daß du erscheinst.[678]

Und sie erschrak wie damals und erwies

sich wieder als die Magd, ihn tief bejahend.

Er aber strahlte und, unendlich nahend,

schwand er wie in ihr Angesicht – und hieß

die weithin ausgegangenen Bekehrer

zusammenkommen in das Haus am Hang,

das Haus des Abendmahls. Sie kamen schwerer

und traten bange ein: Da lag, entlang

die schmale Bettstatt, die in Untergang

und Auserwählung rätselhaft Getauchte,

ganz unversehrt, wie eine Ungebrauchte,

und achtete auf englischen Gesang.

Nun da sie alle hinter ihren Kerzen

abwarten sah, riß sie vom Übermaß

der Stimmen sich und schenkte noch von Herzen

die beiden Kleider fort, die sie besaß,

und hob ihr Antlitz auf zu dem und dem...

(O Ursprung namenloser Tränen-Bäche).


Sie aber legte sich in ihre Schwäche

und zog die Himmel an Jerusalem

so nah heran, daß ihre Seele nur,

austretend, sich ein wenig strecken mußte:

schon hob er sie, der alles von ihr wußte,

hinein in ihre göttliche Natur.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 678-679.
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