Damen-Bildnis aus den

Achtziger-Jahren

[623] Wartend stand sie an den schwergerafften

dunklen Atlasdraperien,

die ein Aufwand falscher Leidenschaften

über ihr zu ballen schien;


seit den noch so nahen Mädchenjahren

wie mit einer anderen vertauscht:

müde unter den getürmten Haaren,

in den Rüschen-Roben unerfahren

und von allen Falten wie belauscht


bei dem Heimweh und dem schwachen Planen,

wie das Leben weiter werden soll:

anders, wirklicher, wie in Romanen,

hingerissen und verhängnisvoll, –
[623]

daß man etwas erst in die Schatullen

legen dürfte, um sich im Geruch

von Erinnerungen einzulullen;

daß man endlich in dem Tagebuch


einen Anfang fände, der nicht schon

unterm Schreiben sinnlos wird und Lüge,

und ein Blatt von einer Rose trüge

in dem schweren leeren Medaillon,


welches liegt auf jedem Atemzug.

Daß man einmal durch das Fenster winkte;

diese schlanke Hand, die neuberingte,

hätte dran für Monate genug.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 623-624.
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