Sankt Georg

[617] Und sie hatte ihn die ganze Nacht

angerufen, hingekniet, die schwache

wache Jungfrau: Siehe, dieser Drache,

und ich weiß es nicht, warum er wacht.


Und da brach er aus dem Morgengraun

auf dem Falben, strahlend Helm und Haubert,

und er sah sie, traurig und verzaubert

aus dem Knieen aufwärtsschaun


zu dem Glanze, der er war.

Und er sprengte glänzend längs der Länder

abwärts mit erhobnem Doppelhänder

in die offene Gefahr,


viel zu furchtbar, aber doch erfleht.

Und sie kniete knieender, die Hände

fester faltend, daß er sie bestände;

denn sie wußte nicht, daß Der besteht,


den ihr Herz, ihr reines und bereites,

aus dem Licht des göttlichen Geleites

niederreißt. Zuseiten seines Streites

stand, wie Türme stehen, ihr Gebet.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 617-618.
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