Der Auszug

des verlorenen Sohnes

[491] Nun fortzugehn von alledem Verworrnen,

das unser ist und uns doch nicht gehört,

das, wie das Wasser in den alten Bornen,

uns zitternd spiegelt und das Bild zerstört;

von allem diesen, das sich wie mit Dornen

noch einmal an uns anhängt – fortzugehn[491]

und Das und Den,

die man schon nicht mehr sah

(so täglich waren sie und so gewöhnlich),

auf einmal anzuschauen: sanft, versöhnlich

und wie an einem Anfang und von nah;

und ahnend einzusehn, wie unpersönlich,

wie über alle hin das Leid geschah,

von dem die Kindheit voll war bis zum Rand –:

Und dann doch fortzugehen, Hand aus Hand,

als ob man ein Geheiltes neu zerrisse,

und fortzugehn: wohin? Ins Ungewisse,

weit in ein unverwandtes warmes Land,

das hinter allem Handeln wie Kulisse

gleichgültig sein wird: Garten oder Wand;

und fortzugehn: warum? Aus Drang, aus Artung,

aus Ungeduld, aus dunkler Erwartung,

aus Unverständlichkeit und Unverstand:


Dies alles auf sich nehmen und vergebens

vielleicht Gehaltnes fallen lassen, um

allein zu sterben, wissend nicht warum –


Ist das der Eingang eines neuen Lebens?


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 491-492.
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Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Insel Taschenbücher, Nr.49, Neue Gedichte