1.

[538] Die nächste Flut verwischt den Weg im Watt,

und alles wird auf allen Seiten gleich;

die kleine Insel draußen aber hat

die Augen zu; verwirrend kreist der Deich


um ihre Wohner, die in einen Schlaf

geboren werden, drin sie viele Welten

verwechseln, schweigend; denn sie reden selten,

und jeder Satz ist wie ein Epitaph


für etwas Angeschwemmtes, Unbekanntes,

das unerklärt zu ihnen kommt und bleibt.

Und so ist alles was ihr Blick beschreibt
[538]

von Kindheit an: nicht auf sie Angewandtes,

zu Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes,

das ihre Einsamkeit noch übertreibt.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 538-539.
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Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Insel Taschenbücher, Nr.49, Neue Gedichte