4. Kapitel
Westindien in Sicht

[65] Als wir schon im Passat segelten, war es endlich gelungen, Brot zu backen, und zwar hatte das der Kapitän eigenhändig vollbracht. Auch als geschickter Tapezierer hatte er sich erwiesen. Seine neu[65] aufgepolsterte Matratze war ein Meisterstück. Ein Seemann ist eben alles, Schuster, Schneider, Sattler, Bäcker usw. Für Kapitän Pommer galt auch der Satz: Ein Seemann ißt alles. Da ich Binnenländer war und er von diesem Begriff nur eine ganz allgemeine Vorstellung besaß, hatte er mir den Namen »Seppl« beigelegt.

Eines Tages war es ihm mal wieder gelungen, mein Tagebuch zu erwischen, und um mich in Zukunft vor solchen Unannehmlichkeiten zu schützen, griff ich zur List. Das Tagebuch bestand aus einem starken Diarium mit grünen Pappdeckeln. Ich riß nun die beschriebenen Seiten heraus und legte an deren Stelle Zeitungspapier und dergleichen zwischen die Deckel. Dann paßte ich einen Moment ab, da der Alte an Deck stand, trug das grüne Diarium recht auffällig aus meiner Kammer, und den Kapitän scheinbar übersehend, warf ich das Buch in weitem Bogen über Bord. »So, Jahn«, rief ich dem Rudersmann zu, »da ist mein Tagebuch gut aufgehoben!« Der Alte mußte das Manöver beobachtet haben, aber der alte Schlaukopf ließ sich nichts merken, sondern stieg pfeifend in die Kajüte hinunter.

Ich führte nun etwas vorsichtiger mein Tagebuch weiter und konnte mit Genugtuung auf französisch notieren, daß ich zwei Tafeln amerikanischen Kautabaks entdeckt, zum erstenmal unbeaufsichtigt das Ruder bedient hatte und während einer Abendmahlzeit vom Kapitän in Algebra examiniert worden war.

Bei dieser Prüfung hatte sich herausgestellt, daß wir beide nichts wußten. Von unangenehmen Tagesereignissen erzählt mein Journal, daß der Bootsmann den Hund wegen eines geringfügigen Vergehens zweimal mit der Nase aufs Deck stieß, daß mir der Steuermann ein Mißtrauensvotum ausbrachte, weil ich ihn mehrmals belogen hatte, und daß ich am Ruder ganz fürchterlich von Mücken zerstochen wurde. Außerdem fühlte ich mich nicht ganz wohl und merkte, daß meine rechte Backe schwoll.

Die Butter zerfloß bei der großen Hitze, und die Sonne stand mittags fast senkrecht über unseren Köpfen. Natürlich waren wir alle kaffeebraun. Ich fühlte mich sehr wohl in dieser Temperatur. Meine dicke Backe schrumpfte bald wieder ein. Das Anbringen der alten Passatsegel kostete viel Arbeit. Der Appetit war dementsprechend, aber die Speisekarte bot wenig Auswahl. Jeden Tag gab's Labskaus, Kartoffeln und Salzfleisch zu einem Brei zusammengekocht. Ich wußte mir dann und wann einen Extraleckerbissen zu verschaffen.[66]

Der Alte glaubte beim Öffnen einer Dose Geleeheringe zu bemerken, daß sie verdorben seien. Steuermann und Bootsmann pflichteten aus Devotion oder Unkenntnis dieser Ansicht bei. Als der Kapitän an meine sachverständige Nase appellierte, bedeutete auch ich ihm durch eine nicht mißzuverstehende Pantomime, daß die Heringe nichts mehr taugten. Wie erwartet erhielt ich nun die ganze Dose als Geschenk und barg sie triumphierend in meiner Koje. Es waren vorzügliche, unverdorbene Geleeheringe.

Kapitän Pommer liebte es, mir derartige Großmutsakte möglichst oft noch vorzuhalten, und er wetterte nicht schlecht, als ich einige Tage nach der Heringsgeschichte eine Flasche Wein zerbrach.

Hübsch war das Meeresleuchten bei Nacht anzusehen. Das glitzerte wie sprühende Funken in den Fluten.

Wir waren alle äußerlich verkommen. Eines Abends zog ich zum erstenmal seit zwei Wochen meine Strümpfe aus, wobei ich bemerkte, daß mir wahre Vogelkrallen an den Zehen gewachsen waren. Wir schliefen damals in den schmutzigen Sachen, die wir bei der Arbeit anhatten. Wasser zum Waschen war nur wenig vorhanden, und in der kurzen Freizeit, die uns der Dienst ließ, waren wir zu müde zum Waschen. Als ich einen der Matrosen bat, mir die Haare zu schneiden, empfahl er mir, das mittels Petroleums und eines Zündholzes selbst zu besorgen.

Die große Decksreinigung wurde mit aller erdenklichen Gründlichkeit durchgeführt. Ich hatte den ganzen Tag unaufhörlich Wasser herzutragen, daß ich außenbords in einem Eimer schöpfte. Das war auf die Dauer ziemlich anstrengend. Die andern schrubbten indessen die Holzplanken mit weißem Sand und scharfem Sodawasser, um später mit Meerwasser nachzuspülen. Wenn das Deck rein und trocken war, ölten wir es mit Leinöl.

Willy fand den ersten fliegenden Fisch an Deck und briet ihn zum Frühstück. Auch ich kostete ihn und fand ihn sehr wohlschmeckend. Die Flügel klebte sich der Steuermann auf ein Stück weißes Papier als Schmuck für sein Zimmer. Einen Haifisch sichteten wir und hängten sofort Speck an einen eisernen Haken an ebensolcher Kette über Bord. Das schlaue Tier biß aber nicht an. Auch einen anderen großen Fisch, einen sogenannten Großkopf, bemerkten wir. Leider kam er nicht näher heran, sondern verschwand plötzlich in die Tiefe.

Geschmacksache: Unser Koch meinte, gekochtes Rindfleisch[67] würde durch Zutat von Ingwer, Zimt, Nelken und Mandeln schmackhafter. Irgendein anderer wieder hatte dem Koch einen drei Zoll langen Nagel heimlich in den Puddingteig geworfen. Der ergrimmte Koch verdächtigte Jahn, und so kam es zwischen beiden zur Prügelei, wobei der Koch zu meiner Freude den kürzeren zog.

Die »Elli« war, wie alle Holzschiffe, stark von Ratten bevölkert. Der Bootsmann fing ein solches Tier. Es wurde in ein Vogelbauer eingesperrt. Bootsmann und Steuermann stellten sich dann dicht davor und durchlöcherten die Ratte mit Revolverschüssen. Dabei erzürnten sich beide. Der Bootsmann sprach seit diesem Tag kein Wort mehr mit dem Steuermann, und dieser zog eine bitterböse Miene. – Wir mußten pumpen, da sich viel Wasser im Schiffsraum angesammelt hatte. Am Himmelfahrtstage sichteten wir nach langer Zeit einmal wieder ein Schiff. Es fuhr mit vollen Segeln an uns vorbei. Ein stattlicher Anblick!

Einer der Matrosen unterrichtete mich im Knoten und Spleißen.

Der Hund hatte endlich das »Schönmachen« von mir gelernt. Das glich er durch eine neue Schandtat wieder aus, indem er sich diesmal nicht in die Lorbeeren, wohl aber in die Zwiebeln setzte.

Der Kapitän war wirklich ein Unikum. Während ich am Ruder stand, schritt er genau anderthalb Stunden vor mir auf dem Achterdeck auf und ab und sang dabei unaufhörlich die zweite Strophe des Volksliedes »Verlassen bin i« und darauf ebensolange ein anderes Volkslied; das begann: »Meinen Vater wollt ich suchen, ich fand ihn nicht.«

Ebenso sangeslustig war Gustav, nur mit dem Unterschied, daß er abwechslungsreicher war und nur zur Nachtzeit sang, wenn er auf Ausguck hin und her marschierte und dann alle Lieder in ein entsprechendes Marschtempo brachte.

Die Unzufriedenheit unter der Mannschaft nahm bedrohlich zu. Täglich gab es weniger zu essen, und das wenige wurde, wenn es nicht schon ungenießbar war, vom Koch verdorben: Bohnen und Bohnen und Bohnen und Bohnen. Es war kein Wunder, daß sich vorn alle gegen den Koch verschworen. Zur Nachtzeit wurden ihm die schikanösesten Streiche gespielt, und am Tage bekam er die unglaublichsten Schimpfnamen zu hören. Sogar Napoleon nannte ihn einen Schafskopf, mußte es allerdings auch mit zwei Wunden büßen, die ihm der Koch mit dem Schüreisen schlug.[68]

Zwischen Steuermann und mir bestand ein ähnliches Verhältnis. Der schlug und peinigte mich, wo er nur konnte. Er hatte entdeckt, daß einer der zum Waschen benutzten Bottiche fettig war. Da niemand außer dem Koch mit Fett zu tun hatte, war es ganz klar, daß diesen allein die Schuld traf, aber da er es leugnete, bekam ich die Prügel.

Es trieb jetzt viel Seegras im Wasser vorüber, ein Zeichen, daß wir uns der Küste näherten. Wir erwarteten täglich, Guadeloupe in Sicht zu bekommen. Wir freuten uns selbstverständlich alle darauf. Am meisten wohl Paul und ich, weil wir zum erstenmal ein überseeisches Land kennenlernen sollten und das Leben an Bord der »Elli« gründlich satt hatten. Es war auch wirklich schlimm zugegangen in der letzten Zeit. »Viel Arbeit« hatte ich fast jeden Abend in mein Tagebuch eingetragen, und ich erhielt, schuldig oder unschuldig, so viel Schläge von Boots- und Steuermann, daß mein Körper alle Farben zeigte. Wenn mir der Bootsmann, wie so oft, bei ganz geringfügigen Anlässen Hiebe versprach, dann wußte ich, was ich zu erwarten hatte, und es ist wohl begreiflich, wenn mir dann Rachegedanken durch den Kopf gingen. Aber in meiner Stellung als Schiffsjunge durfte ich der Übermacht gegenüber gar nicht an Widerstand denken. Ich mußte die Faust in der Tasche ballen und wurde mehr und mehr verbittert, zumal ich sah, daß selbst größter Eifer und übertriebene Unterwürfigkeit keinen Eindruck auf meine Vorgesetzten machten, und das waren außer Napoleon alle.

Am Dienstag nach Himmelfahrt, abends sechs Uhr, erblickten wir Guadeloupe in der Ferne. Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt, die sich strichweise in starken Regengüssen auflösten.

Wir fingen einige Hornfische, auch Sauger genannt, weil sie sich mit ihrer platten Kopffläche am Schiffsrumpf festsaugen.

Am andern Morgen passierten wir Guadeloupe. Eine Menge kleinerer Inseln liegen darum. – Ich zerbrach einen Zylinder. Dafür und auch weil ich beim Brassen eines Segels nicht flink genug gewesen war, schlug mich der Bootsmann.

Ach, wie sehnte ich mich da danach, an einer dieser Inseln aussteigen zu können! Das müßte herrlich sein!

Zwischen Bootsmann und Steuermann kam es zu einer blutigen Schlägerei. Das Motiv war folgendes: Ich hatte den Auftrag erhalten, die Steuerbordspreelatten zu umkleiden, und da ich bei[69] dieser Arbeit außerhalb der Reling stehen mußte, band mich der Steuermann zur Sicherheit mit einem Tau fest, wie es das Seemannsgesetz vorschreibt. Der Bootsmann hielt das aber für überflüssig. So kam es zwischen den beiden grimmigen Feinden zum Wortstreit und dann zu Tätlichkeiten. Der Bootsmann suchte in rasender Wut den Steuermann über Bord zu stoßen. Dieser klammerte sich an die Wanten und wehrte sich mit verzweifelten Fußtritten. Ich versuchte vergebens, die Kämpfenden zu trennen. Erst als der Kapitän, durch den Lärm aufmerksam gemacht, an Deck erschien, ließen die zwei voneinander ab. Die Matrosen hatten der Szene, im Halbkreis herumstehend, mit sichtlicher Freude zugeschaut. Der Steuermann war schlecht bei ihnen angeschrieben.

Von diesem Tage an aß der Bootsmann nicht mehr achtern, sondern vorn im Logis. Daraus erwuchs mir der Vorteil, daß von der Kajütsmahlzeit manchmal etwas für mich übrigblieb.

Auch die Reibereien unter der Mannschaft nahmen kein Ende. Meistens richteten sich die Angriffe gegen den Koch. Jahn hatte ihm über Nacht drei dicke Knüppel in die Kombüse gestellt, und der ängstliche Küchenmeister verstand diesen drastischen Wink sehr wohl.

In der Nähe der französischen Insel Martinique ließ ich eine Flaschenpost los. In eine leere Buttel tat ich Nägel und ein Kärtchen an Vater, das ich kuvertierte und adressierte, außerdem einen Zettel, darauf ich den ehrlichen Finder bat, den Brief zu befördern. Ich verkorkte und versiegelte die Flasche, steckte ein Fähnchen in den Pfropfen und fettete diesen nochmals mit Margarine ein. Dann warf ich die Flasche über Bord. Infolge der Schwere der Nägel tanzte sie aufrecht im Wasser stehend davon. Lange folgte ich ihr mit den Augen und mit aufgeregter Phantasie. Das war so, wie einen Luftballon steigen lassen, was mir auch von jeher ein seltsam mich bewegendes Vergnügen gewesen war.

Es sei hier voraus verraten, daß meine Flaschenpost an einer der britischen Kleinen Antillen, der Insel Barbuda, antrieb. Sie wurde gefunden, und der Bürgermeister der Insel sandte den eingelegten Gruß an meinen Vater mit einem Begleitschreiben, das jetzt vor mir liegt:
[70]

»Dear Sir

The bottle containing your message and card thrown overboard from the Ella, 4 days out from Martinique, was picked up on the 8th June by a man living here and brought to me.

At your request I forward your card which I have no doubt you will be very glad to get again.

I am dear Sir yours faithfully

Oliver Nogent

Acting Magistrate Barbuda

British West Indies.«


Ich hatte schon früher unterwegs wiederholt solche Flaschenposten losgelassen, von denen ich aber nie mehr hörte. Kapitän Pommer hatte mir übrigens diesen Sport verboten. Mit Recht. Denn es war ein hübscher Brauch, daß Schiffe beim Sichten einer Flaschenpost sofort stoppten und sie auffischten, weil sie eventuell die letzten Nachrichten eines untergegangenen Fahrzeuges enthielt.

Ich hatte mir überlegt, in Amerika abzumustern oder, falls man, wie das wahrscheinlich war, mich nicht freiwillig von Bord lassen wollte, heimlich davonzulaufen. Der letztere Weg hatte manchen Nachteil. Ich hätte dann keine Bescheinigung über meine bisherige Seefahrt bekommen und brauchte diese doch später einmal fürs Steuermannsexamen. Aber vielleicht wartete dort in dem fremden Lande mein Glück. Hier an Bord war es nicht mehr auszuhalten. Als sich eines Tages der Koch direkt weigerte, mir mittags etwas zu essen zu geben, fiel ich in blinder Wut über ihn her und richtete ihn mit meinen Fäusten gehörig zu. Es war ein Glück, daß die Matrosen ausnahmslos auf meiner Seite standen, sonst wäre mir dieser Gewaltakt wohl übel bekommen. So aber nickten mir alle noch aufmunternd zu, als wollten sie sagen: »Das hast du recht gemacht«, während der Koch zähneknirschend und gemeine Schimpfworte murmelnd davonschlich. Natürlich schikanierte er mich seitdem noch mehr, und dazu hat ein Koch ja stets Gelegenheit.

Meine Hände waren von Teer, Farbe und Sonne schwarz geworden. Dabei muß ich bemerken, daß ich mich höchstens alle fünf Tage einmal wusch.

Der Pfingsttag war herangekommen, sehnlichst erwünscht, denn wir erhofften von ihm ein gutes Mittagessen.

Unser Kapitän ließ sich nicht lumpen. Schweinebraten und Rotkohl gab's allerdings nicht, aber ein dünnes Stück Schinken,[71] eine Zigarre für jedermann und sehr viel Grog. Mein Gott, das war ein Genuß, wie ihn eine Landratte gar nicht verstehen kann. Wir waren sehr übermütig und besoffen uns maßlos.

Am Nachmittag lockte mich lautes Hundegeschrei von der Kombüse her an Deck. Der Koch erzählte uns, daß der Hund die Krämpfe bekommen und er deshalb das Tier über Bord geworfen habe. Das war aber sicher eine Lüge. Wir alle mutmaßten sofort, daß der niederträchtige Schuft das Tier, das er nicht leiden mochte, mit dem glühenden Schüreisen versengt und dann über die Reling geworfen habe, denn es roch stark nach versengten Haaren, und das Schüreisen lag mitten auf den Steinfliesen. Es fehlte nicht viel, so hätte ich mich auf die Kanaille von Koch geworfen, zumal ich sehr betrunken war; aber die anderen hinderten mich daran. Es ließ sich ja auch nichts nachweisen. – – Mein armer, vierbeiniger Freund! Sein Schicksal ging mir wirklich nahe. Ich hatte ihn doch trotz manchen Ärgers, den er mir bereitet, sehr liebgewonnen, und er war zu mir auch stets am anhänglichsten gewesen. Hätte ich gewußt, was für eine Behandlung und was für ein Ende er an Bord der »Elli« finden würde, ich hätte ihn gewiß damals in Le Havre nicht aufgegriffen.

Napoleon schrieb einen französischen Brief an meine Mutter, den er bei nächster Gelegenheit absenden wollte. Auch dieser Brief liegt jetzt vor mir. Die ersten zwei Seiten hat der Franzose sauber und schön, wie gestochen, geschrieben:


»le 27 Mai

Chère Madame

je vous écris ces mots et j'espère qu'elle vous fera plaisir, je vous souhaite une bonne santé ainsi que monsieur. Je suis comme votre fils, c'est la première fois que j'ai été en mer. Aussi chère Madame j'ai eu le plaisir dans mon voyage de trouver comme ami votre fils: Et j'en remercie Dieu car s'en cela pendant tout le voyage j'aurai été toujours triste. Le hasard a amené, plusieurs fois que nous travaillons ensemble, aussi nous étions joyeux, et l'amitié entre nous s'augmentait de plus en plus, j'espère chère Madame que vous retrouverez votre fils en bonne et parfaite santé, j'espère aussi vous n'oublierait pas de m'écrire je serai si content de recevoir de vos nouvelles, en attendant chère Madame je termine ma lettre en souhaitant encore à tous une bonne et parfaite santé.

Je vous salue respectueusement

votre tout devoué

Paul Phené«
[72]

Dann folgen zwei total verschmierte und bekleckste Seiten, auf denen ich in liederlichster Schrift hinzugeschrieben habe:

»Das ist der Brief des kleinen aber fetten französischen Kajütsjungen (ich bin schon seit langer Zeit Decksjunge). Wir haben sehr viel Mahagoni, Zedern und Blauholz, daß wir schon jetzt sehr tief liegen. Wir werden also sehr viele Wasser an Bord bekommen. Ich kann nun also lange Zeit nicht schreiben, werde das aber vom Bestimmungsort sofort thun. Ich glaube, daß wir schon nächsten Montag die Anker lichten.«

Nach den Feiertagen gab es einen wolkenbruchartigen Regen. Wir benutzten diese willkommene Süßwassergelegenheit zu einem gründlichen Deckscheuerfest. Das war ein Schrubben, Scheuern, Spritzen, Spülen; das ganze Deck schwamm in einer Flut. Jahn und Willy machten sich den Scherz, mir eine Pütz voll Wasser über den Kopf zu gießen, so daß ich bis auf die Haut durchnäßt wurde. –

Hinter uns tauchte eine Bark auf, die den gleichen Kurs wie wir nahm. Wir fingen auch einen Vogel an diesem Tag. Das Tier hatte sich auf einer Rahe niedergelassen. Der Alte hielt es seiner gelben Brust wegen für einen Zeisig und setzte ihm hintereinander Schinken, Kartoffeln, Bisquit, Reis, Kakerlaken und schließlich Pfeffer zum Fressen vor, was es aber alles verschmähte.

Am Horizont zeigte sich ein schmaler Streifen Land. Das war Jamaika. Die Hitze war enorm gestiegen, und wir waren ganz in Schweiß aufgelöst, wenn wir das Pumpenrad stundenlang gedreht hatten. Aber diese Arbeit war nötig.

Die gesichtete Bark überholte uns. Wir grüßten sie beim Passieren nach Seemannsbrauch durch Auf- und Niederziehen der Flagge und winkten außerdem mit den Taschentüchern hinüber. Ich bereitete mir aus Essig, Sirup und Wasser ein höchst erfrischendes Getränk, fand aber bald heraus, daß es den Körper nur schlapp machte. Wiederum hatte sich ein Vogel, diesmal ein sehr großes Tier, auf dem Schiff niedergelassen. Die Erfahrenen unter uns erkannten in ihm einen sogenannten Döskopp. Diesen Namen legen ihm die Seeleute zu, weil er so menschenfremd ist, daß er sich ohne weiteres mit der Hand greifen läßt. Er hatte sich im Vortopp auf die höchste Mastspitze gesetzt, flog aber wieder davon, ehe Jahn und ich hochklettern konnten.

Wir waren nun nicht mehr weit von unserem Ziele und trafen umfangreiche Vorbereitungen, um die »Elli« den Bewohnern der Neuen Welt in recht schmuckem Kleid zu zeigen. Gründlich[73] abgescheuert war ja schon alles, und nun ging's ans Malen. Sämtliche Holz- und Eisengerätschaften wurden, soweit sie nicht poliert waren, mit einem grellbunten Anstrich versehen. Besonders weiße Farbe wurde angebracht, wo sie sich nur anbringen ließ. Es war eine Beschäftigung, der wir uns mit großer Lust hingaben, und selbst der Alte beteiligte sich an den feineren Arbeiten. Er war fast ein Kunstmaler und verstand es zum Beispiel meisterhaft, mit einem kammförmig ausgezackten Stück Holz auf dem Gläserspind eine Holzmaserung zu imitieren. Ebenso talentvoll wußte er eine lange schwarze Linie längs der Reling schnurgerade zu ziehen. Mir selbst fiel die Aufgabe zu, breitere Flächen mittels eines dicken Pinsels und diverser Dosen Kohlteer mit schwarzem Glanz zu überziehen. Der Malerei folgte das weniger beliebte Messingputzen. Mit Sand und Petroleum mußten alle an Bord befindlichen Messingteile, Gitterstäbe und so weiter, die durch das Meerwasser sehr gelitten hatten, blitzblank gerieben werden. Da gab's manchmal blutige Finger.

Ich weiß nicht wie es kam; ob der Bootsmann vermutete, ich würde seinetwegen in Amerika das Schiff verlassen, oder ob Kapitän Pommer mit ihm gesprochen hatte, genug, er behandelte mich auf einmal mit auffallender Freundlichkeit. Dasselbe galt vom Steuermann. Dieser erzählte mit jetzt mitunter von seiner Heimatstadt Oldersum, die auch der Heimathafen des Schiffes war. Er plauderte von der Reederei, daß derselben im vergangenen Jahr drei Schiffe spurlos verschollen seien, worunter sich auch ein ganz neues befunden habe. Er zeigte mir auch mit nicht geringem Stolz seine schriftlichen Arbeiten von der Steuermannsschule, war aber etwas verblüfft, als ich ihm bei einer leichten geometrischen Aufgabe einen Fehler nachweisen konnte. Kurz, er war sonderbar liebenswürdig auf einmal, aber ich traute dem Frieden nicht.

Am Sonntag, dem z. Juni mittags, sichteten wir während fortgesetzter Segelmanöver verschiedene Inseln. Ich zählte von der Bramrahe an Backbord drei und an Steuerbord eine. Der Kapitän ließ die Lotsenflagge hissen. Gegen sechs Uhr abends steuerte ein Fischerboot auf uns zu, in dem wir bald vier Mulatten erkennen konnten, die nur mit Hose und Hemd bekleidet waren. Wir drehten bei und warfen den Fischern, die in einer mir unverständlichen Sprache laut zu uns herüberschrien, eine Leine zu, mit deren Hilfe sie nun längsseits unseres Schiffes kamen. Es waren wunderschöne Gestalten. Einer von ihnen klomm die von uns[74] über Bord gehängte Falltreppe empor und verhandelte an Deck sehr lebhaft mit dem Kapitän in englischer Sprache. Ich konnte nur einzelne Worte davon verstehen, aber Hermann verdolmetschte mir den Sinn seiner Rede. Der Mulatte erklärte, daß er Fischer wäre und uns für fünfzehn Dollar nach Belize bringen wollte. Allright! Der Alte willigte ein, und der Gelbe blieb bei uns als Lotse an Bord, während seine Begleiter im Boot wieder davonfuhren. Dieser Lotse war nicht größer als ich. Er entledigte sich zunächst an der Kajütstreppe seiner durchnäßten Kleider und zog dafür eine nicht ganz saubere Hose mit sehr guter Ventilation an. Das Frühstück, das ihm der Alte anbot, wies er bescheiden zurück und nahm nur etwas Tee an. Seinen breitkrempigen Strohhut legte er vorher unter den Tisch.

Ich war ganz aufgeregt. Hatte mich schon der vorangegangene Akt der Lotsenaufnahme in hohem Grade interessiert, so lauschte ich jetzt, während ich mir am Gläserspind zu schaffen machte, mit höchster Spannung auf das, was der Fischer von Belize erzählte. Freilich konnte ich bei seiner raschen Sprechweise nur wenig übersetzen, aber ich verstand zum Beispiel, daß Trinkwasser in Belize sehr teuer wäre und Früchte sehr billig, daß nur wenig große Schiffe dorthin kämen, dagegen aber viele kleinere. – Bei den westindischen Inseln ist ein gefährliches Fahrwasser. Wir wurden alle Minuten an Deck zum Segelbrassen gerufen. »Bout ship!« hieß das Kommando, und wehe mir und Paul, wenn wir nicht gleich an Deck flogen. Ich mußte überhaupt jetzt bei allen Arbeiten mit zufassen und half sogar beim Festmachen des Groß-Segels. Da gab's heiße Arbeit, aber wir verrichteten sie mit größtem Eifer.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 65-75.
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