6. Kapitel
Amerika und kein Urlaub

[81] Willy und der Matrose hatten sich Landerlaubnis geholt, und ich hoffte ebenfalls darauf, fragte aber erst am nächsten Tag, als auch Bootsmann und Steuermann Urlaub erhielten, ob ich etwas Vorschuß bekommen könne.

»Wieviel Dollar willst du?« fuhr mich der Alte barsch an, und als ich bemerkte, daß ich nur wenig brauche, um etwas für meine Eltern zu kaufen, erklärte er mir auf einmal, ich würde überhaupt nicht an Land kommen, weil ich in mein Tagebuch geschrieben hätte, daß ich in Belize ausreißen wolle. Er hatte also wieder in meinem Tagebuch geblättert. Es traf mich wie ein harter Schlag, daß ich nun gar nicht das verlockende Land, das vor mir lag, kennenlernen sollte, worauf ich mich seit Anbeginn der Reise sehnlichst gefreut hatte. Dann gab mir noch der Koch zu verstehen, daß er sich anders besonnen habe und doch lieber an Bord bleiben und die Rückreise auf der »Elli« mitmachen wolle. Da wurde ich so erbittert über die Feigherzigkeit meiner Umgebung und die rohe Gewalt, mit der man mich festhielt und behandelte, daß ich in Tränen der Wut ausbrach.

Ich ließ mich nun aber erst recht nicht von meinem Gedanken abbringen und beschloß, einen geeigneten Zeitpunkt abzuwarten, um allein das Weite zu suchen. Den Leichtmatrosen Hermann, der ein guter Junge war, weihte ich in meine Pläne ein. Er mußte mir ehrenwörtlich versprechen, mich nicht zu verraten.[81]

Am nächsten Morgen fragte ich, diesmal den Steuermann, ob ich mit dem Koch an Land dürfe. Er antwortete: Ich käme nicht an Land, könne aber mit ihm und den Matrosen Paul und Gustav eine Bootstour nach den Inselgruppen machen. Ich ließ meine Enttäuschung nicht merken und nahm das Anerbieten an.

Wir stiegen ins Boot und ruderten den kleinen Inseln zu, die vor uns lagen. Die Ruder waren sehr schwer. Ich war das nicht gewöhnt und hatte Mühe, mit Paul und Gustav im Takt zu bleiben. Das Wasser war stellenweise ganz flach, und wir sahen auf dem Grunde große Krabben laufen, die ich mit der Hand herausfischte. Mehrmals saß das Boot fest. Dann mußten wir ins Wasser springen, um es wieder flott zu machen. Von der nahen Küste herüber klang ein lautes Summen und Brummen, das von zahllosen Insekten herrührte, aber so stark war, daß es an das Brausen eines Wehrs erinnerte. In einen Fluß, oder in einen schmalen, in das Land hineingestreckten Meeresarm einbiegend, erblickten wir am Ufer zwei Negerweiber, von denen die eine der andern die Haare schor, häßliche alte Hexen. Gleich darauf aber wurden wir durch einen reizvollen Anblick entschädigt. In einem Kanu, das in der Nähe eines Blockhäuschens am Strande befestigt war, kauerte eine wunderschöne, junge Kreolin, nur mit einem dünnen Hemd bekleidet. Von herrlichem Körperbau, mit stahlblauen, glänzenden Haaren, bot sie inmitten der wilden Waldlandschaft ein entzückendes Bild.

In dem engen Gewässer mußten wir dicht an dem Kanu vorüber, und unwillkürlich ließen wir dabei, wie auf Kommando, alle die Ruder sinken. Das junge, braune Mädchen blieb unbeweglich in ihrer graziösen Stellung an der Spitze des leichten Fahrzeuges. Ich sehe noch heute, wie ihre melancholischen Augen uns folgten. Sicherlich hatte sie auf uns alle den gleichen Reiz ausgeübt, denn wir fanden ziemlich spät erst Worte der Begrüßung. Sie aber erwiderte in freundlichem Ton irgend etwas, und als ich mich über die kleinen Krabben wunderte, die zu Hunderten auf einem dem Kanu zum Schutz dienenden Balken umherkrabbelten, reichte mir das schöne Kreolenmädchen ein eigentümlich geformtes Messer herüber, mit dem ich die Tiere fangen sollte.

Wir mußten weiterfahren. Am Ufer bemerkten wir einen Haufen großer Muscheln. Das war etwas für mich! Als ich aber ins Wasser sprang und mir etwas von dem Schatz holen wollte, fand ich, daß die Muscheln alle angeschlagen waren. Später schenkte uns ein[82] Neger, den wir trafen, zwei gut erhaltene Exemplare und warf uns auch einige Mangos ins Boot, die wir uns vortrefflich schmecken ließen.

Die Wasserstraße verengte sich immer mehr, so daß wir öfters mit den Riemen im dichten Buschwerk zu beiden Seiten hängenblieben. Einen Balken, der uns den Weg versperrte, mußten wir mühevoll beseitigen. Wir drangen aber weiter vorwärts. Einmal stiegen wir auch an Land, ohne uns allerdings weit vom Boot zu entfernen.

Unzählige Moskitos umschwirrten und zerstachen uns. Zum erstenmal sah ich hier Palmen mit Kokusnüssen, Gummibäume und viele andere mir zum Teil ganz unbekannte Gewächse in freier Natur. Ich dachte wieder an Flucht, aber der Steuermann mochte das wohl ahnen, denn er behielt mich unausgesetzt im Auge.

Als wir eben vom Lande wieder abgestoßen waren, sah ich ein großes Tier vor mir in die Höhe schießen. »Ein Krokodil!« »Ein Alligator!« riefen wir wie aus einem Munde. Das Tier schoß mit fabelhafter Geschwindigkeit an der Oberfläche des Wassers dahin, hinter sich eine breite Furche aufgewühlten Schlammes nachziehend. Wir verfolgten es, aus Leibeskräften rudernd, und der Steuermann stand mit dem spitzen Bootsanker am Bug des Bootes bereit, um das Tier zu harpunieren.

Aber schon war es in einem dichten Gestrüpp verschwunden.

Wir bogen in einen kleinen Nebenfluß ein, an dessen Ufern sich eine seltsame Baumart mit grünem Holz und grellroten Blättern zeigte. Drei etwa 15jährige schwarze Bengels zogen ihre Hemden aus, sprangen ins Wasser und umschwammen lachend unser Boot. Auch schwarze Mädchen und Frauen zeigten sich, einige davon grundhäßlich, andere wieder in moderner, aufgedonnerter Kleidung, höchst komisch. Nach unserer Rückkehr barg ich vor allen Dingen sorgfältig meine Jagdtrophäen: Ein Strauß exotischer Zweige, ein Haufen Muscheln und ein Ziegenschädel.

Wegen meiner Sammelwut wurde ich oft von den Matrosen ausgelacht, aber ich kümmerte mich nicht darum, und wenn ich sogar nicht Zeit fand, meine Kleider und sonstigen Habseligkeiten in Ordnung zu halten, – für das, was ich meinen Angehörigen und besonders meinem Bruder Wolfgang mitzubringen gedachte, hatte ich immer Zeit und Raum übrig. Allerdings begnügten sich meine Kameraden nicht damit, mich für verrückt zu erklären, sondern sie verdarben mir auch in ihrem plumpen Unverstand oder aus[83] Schabernack meine Schätze. So hatte mir Jahn verschiedene Male sehr interessante Fische, die ich mit Tabak ausgestopft und dann zum Trocknen auf die Kombüse gelegt, über Bord geworfen mit der hartnäckigen Erklärung, daß solches »verottetes Viehzeug« doch nur stinken würde.

Ich hatte das Unglück, vom Alten überrascht zu werden, wie ich auf der Wendeltreppe einen heimlichen, tiefen Zug aus der Kognakflasche tat. Er machte jedoch zu meiner Verwunderung gar kein Wesen aus dieser Sache.

Es folgten jetzt immer schwerere Arbeitstage, die uns viel Schweiß kosteten. In der Beköstigung war keine große Änderung eingetreten, denn das Frischbrot, das wir am Hafen zweimal wöchentlich erhielten, war ein ganz leichtes, trockenes und kraftloses Gebäck, und die täglichen Fleischrationen waren sehr knapp bemessen.

Den einzigen Genuß boten die Früchte, die uns die Schwarzen mitbrachten. Für eine Ananas zahlten wir 5 Cents, also 20 Pfennig, und dabei verdienten die Nigger noch viel.

Die Bezeichnung »Nigger« brachte mir übrigens beinahe eine Tracht Prügel ein. Als ich eines Tages einen baumlangen Eingeborenen ahnungslos mit den Worten »Du Nigger!« anrief, drang er mit einem Stück Eisen wütend auf mich ein und schrie dabei, er wäre kein Nigger, und er sei ebenso klug wie wir. Hermann, unser Sprachgenie, sprang vermittelnd zwischen uns und beschwichtigte den Schwarzen.

Zwei Gentlemen, ein Weißer und ein Gelber, besuchten den Alten. Sie benahmen sich äußerst ungeniert, betranken sich an Kapitän Pommers Cognac vieux und kauften zuletzt dem Steuermann einen Revolver ab. Einmal ließ sich der Kapitän auch von Hermann und mir an Land rudern. Der Leichtmatrose war klein und schwächlich und ich im Rudern noch nicht sehr geübt. Wir strengten uns aber beide äußerst an und pullten den weiten Weg bis zur Anlegestelle in Belize mit solchem Eifer, daß ich mehrmals nichts sehen konnte, weil mir der Schweiß von der Stirn in die Augen lief. »Pullt, pullt, ihr Bengels!« feuerte uns der Kapitän an. Als wir dann gelandet waren, gab er uns einen Schilling, ermahnte uns, gut aufs Boot aufzupassen, bis er wiederkäme und entfernte sich darauf schwankenden Schrittes in der Richtung nach dem Gouvernementsgebäude. Nun stand ich allein mit Hermann in Belize auf festem Boden. Wir hatten bei einem freien Platz angelegt, der von[84] schmucken sauberen Holzbauten mit grünen Fensterläden umgeben war. Nur ein steinernes Gebäude war sichtbar, und die auf dem Dach wehende englische Flagge kennzeichnete es als Gouvernementsgebäude. Es war auch Polizeistation. Auf dem Platz selbst stand eine ungeheure Wassertonne. Ein Schwarzer verkaufte dort Trinkwasser. In Belize war man auf das Trinkwasser angewiesen, das man während der Regenzeit in umfangreichen Fässern auffing oder von Wellblechdächern in alle möglichen Gefäße leitete.

Es herrschte ein reges Treiben auf dem Platz. Schwarze, gelbe und auch weiße Menschen in bunten Kleidern, mit breiten Strohhüten spazierten umher oder gingen ihren Geschäften nach. Anscheinend war gerade Markttag.

In einem geräumigen Schuppen wurden Fleisch und Obstwaren feilgeboten. Wir erstanden für einen Schilling: zwei Ananas, ein Bund Bananen und verschiedene andere Früchte, die wir gleich probierten. Den Rest bargen wir im Boot, legten die Ruder und Ruderdollen unter die Sitze, überzeugten uns noch einmal, daß das Fahrzeug gut festgebunden war und bummelten nun durch die Straßen, um mit neugierigen Augen das Leben und Treiben dort zu beobachten. Zunächst begegneten wir einem langen schwarzen Soldaten mit geschultertem Gewehr, der vier gelbe Gefangene begleitete, die in Blecheimern Trinkwasser schleppten. Sie lächelten uns gemütlich zu. Dann lockten uns eine Menschenmenge und der wiederholte Ruf »Going at«, »Going at« zu einer öffentlichen Auktion. Es wurde gerade ein Fahrrad für 40 Dollar ausgeboten. Unter den Negern, die den Tisch umstanden und durch laute Zwischenrufe sehr störten, befanden sich mehrere Schauerleute, die tags zuvor beim Laden auf der »Elli« beschäftigt waren. Einer derselben stellte uns einen alten Herrn als Landsmann vor. »Sprichst du Deitsch?« wandte er sich an Hermann. »Jo, ik bin Hamburger Jung.«

Der Herr war aus Ostpreußen, und zwar aus Memel, lebte schon 25 Jahre lang in Belize und versprach, uns gelegentlich an Bord zu besuchen. Wir hatten uns inzwischen unserer Jacken entledigt, denn die Hitzte an Land war noch weit drückender als draußen auf der Reede. So schlenderten wir wieder unserem Anlegeplatz zu. Der Wassermann auf dem Marktplatze verabreichte uns einen Trunk aus seiner Riesentonne gratis. Wir aßen gleich danach im Boot eine Unmenge Früchte, Cholera und Fieber verlachend.[85]

Jetzt wäre vielleicht eine gute Gelegenheit zur Flucht gewesen. Hermann und ich besprachen das auch, aber wir kamen zu dem Resultat, daß wir unmöglich unsere ganzen Habseligkeiten so ohne weiteres im Stich lassen konnten. Mir persönlich lag eigentlich nur daran, mein angefangenes Tagebuch, meine Photographien und einige sonstige Andenken an die Heimat mitzunehmen. Also ruderten wir wieder den Kapitän, der sehr spät und sehr betrunken vom Konsul kam, an Bord zurück.

Es wurde ziemlich laut und allgemein an Bord rebelliert. Jahn schimpfte auf den Koch, die übrigen Matrosen auf den Steuermann und den Kapitän sowie auf das ungenießbare Fressen, und der Bootsmann verrichtete seine Arbeiten mit sichtlichem Widerwillen, indem er dabei von Sklavenketten und Hungerschiff sprach. Die Verhältnisse spitzten sich zu einer Krise zu, und diese kam einige Tage später.

Willy war, in einer freihängenden Stellage sitzend, damit beschäftigt, den oberen Mast braun zu streichen und sang dabei aus voller Lunge das schöne Lied:


Bei einem Städtchen,

In einem tiefen Tale,

Da saß ein Mädchen

An einem Wasserfalle.

Sie war so schön, so schön wie Milch und Blut,

Von Herzen war sie einem Räuber gut.

Du armes Mädchen,

Bedaure meine Seele,

Denn ich muß fort

Aus dieser Räuberhöhle,

Wo wir dereinst so glücklich konnten sein,

Jedoch ich muß von dir geschieden sein.

Nimm diesen Ring,

Und sollt' dich jemand fragen,

So sag': Ein Räuber

Hat ihn einst getragen,

Der dich geliebt bei Tag wie bei der Nacht,

Und der so viele Menschen umgebracht.


Mich ergriffen solche Lieder. Kapitän Pommer, der an Deck stand, dachte jedoch anders, denn er rief Willy zu: Er solle bei der Arbeit nicht singen. Willy antwortete mit einem spöttischen »Ach[86] wat!«, worauf der Alte fürchterlich zu schimpfen anfing. Aufgebracht, wie er war, wandte er sich an den über Deck gehenden Bootsmann: »Und was ist eigentlich mit Ihnen, Bootsmann?« sagte er, indem er den Kopf schief hielt und ein Auge zukniff. »Wollen Sie nicht mehr? Sie sprechen von Sklavenketten und Hungerschiff; wenn es Ihnen nicht mehr paßt, können Sie gehen.«

»Ja, das hat keinen Zweck, wenn ich hierbleibe. Das gefällt mir hier nicht!« entgegnete der Bootsmann mürrisch und machte sich sofort daran, seine Sachen zu packen.

Gott sei Dank! Der sollte mich nicht mehr schinden!

Die Entlassung des Bootsmannes rief vorn im Logis lebhafte Debatten, viel Erbitterung und den allgemeinen Wunsch hervor, ihm nachfolgen zu können. Alle waren das Hungerleben auf diesem Schiff satt, aber wir wußten auch, daß der Alte so leicht keinen abmustern würde.

Dem Steuermann entging diese Stimmung unter den Matrosen nicht. Er rief sie auf das Hinterdeck zusammen und erklärte: »Ihr könnt alle frei sein, nur müßt ihr einen Ersatzmann stellen.«

Dieser Schuft! dachten wir; er weiß genau, daß wir hier keinen Ersatzmann, keinen Deutschen finden.

Ich beschloß, den Kapitän zu bitten, mich abzumustern und Napoleon als Kajütsjungen anzustellen. Ich wartete auf eine Gelegenheit, ihn allein unter vier Augen zu sprechen. Ein Postdampfer traf ein und brachte mir wieder Nachrichten von zu Hause. Mein Gott, mit welcher Freude und Aufmerksamkeit las ich diese Briefe. Überraschende Nachrichten. Mein Bruder hatte sich verlobt. Außerdem hatte mir Gertrud, das stille Glück meiner zwei Sextanerjahre, einen Kartengruß gesandt.

Wenn ich auch nicht Landurlaub erhielt, so bekam ich doch etwas von der westindischen Natur zu sehen. Ich angelte Kattfische, die wir dann in Margarine brieten und verzehrten. Sie schmeckten allerdings nicht besonders gut. Wir hörten, daß die Neger diese Fische verschmähten, da sie von allem möglichen Unrat lebten. Die Kattfische geben knurrende Laute von sich und haben einen langen giftigen Stachel auf dem Rücken. Als Gustav zum erstenmal einen solchen Fisch an der Angel aus dem Wasser zog, wollte ich das zappelnde Tier packen und stach mich dabei tüchtig in die Hand. Von Haifischen, zumal den gefährlichen Grundhaien, wimmelten die dortigen Gewässer. Wir hörten von manchem Unglück, das sie angerichtet hatten. Bisweilen kreiste[87] auch eine dieser schlauen Bestien um das Schiff mit hinterlistigen, lauernden Blicken. Ferner besuchten uns zuweilen große, schöne Schmetterlinge, die den weiten Weg vom Land über das Wasser riskiert hatten. Da sie bei uns aber statt Honig nur Teer fanden, hielten sie sich gewöhnlich nicht lange auf. Es gelang uns nicht ein einziges Mal, einen zu fangen.

Ich paßte endlich einen Moment ab, den Alten zu sprechen.

»Kapitän, ich bitte um Entschuldigung. Könnte nicht Napoleon meine Stelle ersetzen?«

»Nein, der kann nichts«, antwortete Kapitän Pommer ruhig und kniff ein Auge zu.

»Ich auch nicht«, fuhr ich nun kühn heraus. Der Alte rief ärgerlich nach dem Koch. »Koch, von heute ab können Sie Steward mit spielen!«

»Ja.«

Bei Tisch, als ich das Essen auftrug, begann der Alte wieder gemütlich:

»Warum willst du eigentlich an Deck?«

»Ich will nicht an Deck.«

»Was willst du denn?« Der Alte sah von seinem Teller auf. Ich schwieg.

»Na, was willst du denn?«

»Auf ein anderes Schiff!« platzte ich heraus, und mein Herz schlug in banger Erwartung, welche Antwort jetzt erfolgen würde.

»Ach abmustern«, sagte der Kapitän gedehnt, und seine Stimme nahm einen ironischen, schadenfrohen Ton an, »nein, das wollen wir nicht einführen.« Er wurde plötzlich sehr ärgerlich. Ohne mich weiter eines Blickes zu würdigen, stopfte er eine Pfeife und schimpfte dabei über eine Klasse Menschen, die er sich wohl aus Leuten meines Schlages zusammengesetzt dachte. »Ihr Bengels kriegt zuviel zu fressen!« wiederholte er mehrmals. Ein paarmal schien es auch, als wolle er einwilligen, aber dann besann er sich, vom Steuermann beeinflußt, wieder anders. Er drohte mir auch, er würde an meinen Vater schreiben, ich wäre zu nichts zu gebrauchen, und aus mir würde nie etwas werden. Dann entließ er mich mit der grimmigen Bemerkung, daß er mir jetzt schon Arbeit verschaffen werde.

Der Steuermann befahl mir noch am selben Morgen, meinen Posten mit Napoleon zu wechseln. Ich mußte meine Sachen ins Logis tragen, wo ich fortan die noch rohere Kost der Matrosen teilen und diesen das Mädchen für alles sein sollte.[88]

»Jetzt bist du vom Regen in die Traufe gekommen!« höhnten die Matrosen, welche glaubten, daß ich auf meinen eigenen Wunsch Napoleons Posten bekommen hätte.

Nun begann erst meine eigentliche Leidenszeit. War die Stellung eines Decksjungen schon an und für sich mit sehr demütigenden Arbeiten verbunden, so suchte man mir das Leben in jeder Beziehung noch schwerer zu machen. Besonders der Steuermann schikanierte und quälte mich in niederträchtigster Weise. Ich erhielt nur noch die schwersten und schmutzigsten Arbeiten zugeteilt, mußte Kohlen schaufeln und Tag für Tag im dumpfigen Zwischendeck mit einem Hammer Rost von Ankerketten und Bootsankern klopfen, bis mir die Augen weh taten und ich deutlich spürte, wie sich Rost und Eisenstaub in meiner Lunge festsetzten.

Der Bootsmann hatte uns inzwischen verlassen. Es hieß später, er habe auf einem russischen Segelschiff, das zwischen dem »Papenburger« und der »Elli« verankert lag, Stellung gefunden.

Merkwürdig war, daß die Matrosen, seitdem er fort war, recht gut auf ihn zu sprechen waren. Alle, auch ich, hatten ihm zuletzt noch freundlich die Hand gedrückt. Es war wohl die mutige Entschlossenheit, mit der er hier im Auslande aufs Geratewohl seine Stellung aufgab, was uns so gefiel und uns manches aus seinem Schuldbuche streichen ließ. Nur der Steuermann schied mit ganz anderen Gefühlen und getraute sich seitdem nicht, an Land zu gehen, da er die Rache des Bootsmannes fürchtete.

Am selben Tage, als der Bootsmann auf dem Deutschen Konsulat abmusterte – übrigens fungierte in Belize ein Neger als deutscher Konsul, der nicht einmal der deutschen Sprache mächtig war –, brachte der Alte einen neuen Matrosen namens August Berger mit. Das war ein alter Janmaat, hoch in die Vierzig, der sein ganzes Leben auf dem Wasser zugebracht hatte. Er war meistens auf ausländischen Schiffen gefahren, also, wie die Seeleute sagen, ein echter »Yankeesailor«. Seine lange, hagere Gestalt, der verwegene Schnurr- und Spitzbart, die finsteren Augenbrauen und die spitze, knochige Nase machten ihn zu einer Don-Quijote-Figur. – –

Wenn den Kapitän auch keine direkte Schuld an den Schikanen traf, denen ich ausgesetzt war, so duldete er sie doch und kränkte mich oft durch seine ironischen Bemerkungen. So fragte er mich manchmal lächelnd, ob es mir vorn besser gefiele als achtern. Ich entgegnete dann, das wäre mir ganz gleich. Als ich eines Abends[89] wie gewöhnlich die Mahlzeit für die Matrosen aus der Kombüse holte, ein kleines Häufchen Bratkartoffeln, blieb er stehen und fragte höhnisch, auf das Essen zeigend: »Ist das für dich?« Ich antwortete mit einem verachtenden Blick. Solcher Hohn tat weh.

Ich dachte daran, meinem Vater zu schreiben, er möchte Kapitän Pommer bitten, mich in Belize zu entlassen.

Der Steuermann zeigte wieder einmal eine merkwürdig scheinheilige Freundlichkeit. Er erzählte mir, daß der Bootsmann schon wieder von dem russischen Schiff fortgegangen wäre. Offenbar wollte er mich ausforschen, ob im Matrosenlogis etwas über den jetzigen Aufenthalt seines alten Feindes bekannt sei. »Seppl«, begann er eines Tages, als ich gerade damit beschäftigt war, eiserne Ketten mit Teer anzustreichen, »wenn es dir hier auf dem Schiff nicht gefällt, warum gehst du eigentlich nicht fort?«

»Nun, ich darf doch nicht«, entgegnete ich erstaunt.

»Ja, deine Papiere bekommst du freilich nicht!«

Das glich einem sehr deutlichen Wink, heimlich Reißaus zu nehmen; aber ich kannte Steuermann Karsten und fühlte heraus, daß er damit auf den Busch klopfen wollte. Ich tat deshalb so, als ob ich derartige Pläne längst aufgegeben hätte.

Als ich nach einiger Zeit das Vertrauen meiner Vorgesetzten wieder erworben zu haben glaubte, fragte ich den Steuermann, ob ich nicht abends an Land gehen dürfe, da ich notwendig Seife und mancherlei anderes brauche.

»Nein, das besorgt dir alles der Alte.«

»Ja, aber ich möchte doch gern für meine Angehörigen etwas kaufen.«

»Ich kann das auch nicht«, erwiderte der Steuermann mit halb ernstem, halb ironischem Lächeln, »ich darf auch nicht mehr an Land, sonst schlägt mich der Bootsmann tot.«

Es schien gar keine Möglichkeit, von Bord zu kommen, aber ich gab die Hoffnung doch nicht auf.

Einmal war ich gerade im Zwischendeck mit Rostklopfen beschäftigt, als der Steuermann plötzlich nach vorn kam und laut rief: »Wer von euch will auf den Russen? Zwei Pfund Heuer.«

»Ich!« schrie ich laut und stürmte an Deck.

»Dann geh nach achtem!«

Ich raste nach achtern. Ein Beiboot des russischen Segelschiffes lag an Steuerbord, und Kapitän Pommer, der eben eingestiegen war, rief mir von unten zu: »Willst du auf den Russen?«[90]

»Ja! Ja!«

»Allright!«

Ich jubelte. Nun sollte ich endlich mein ostfriesisches Gefängnis loswerden, und wenn ich auch wieder auf ein andere Schiff käme, so hatte ich dort doch sicher kein schlechteres, wahrscheinlich aber ein besseres Leben zu erwarten. Die Matrosen suchten mich von meinem Vorhaben abzuhalten, indem sie mir die üblen Verhältnisse auf russischen Schiffen schilderten. Die Mannschaft sollte dort weder erstes noch zweites Frühstück erhalten und vor Schmutz und Ungeziefer fast umkommen. Ich ließ mich nicht beirren.

Zunächst hörte ich nichts weiter von der mir so wichtigen Angelegenheit, hütete mich aber auch, allzu große Neugier an den Tag zu legen. Der neue Matrose unterhielt uns jetzt immer während der Mahlzeiten und abends nach Ausscheiden mit seinen interessanten Reiseerzählungen. Er hatte ganz Yukatan durchquert, auf Plantagen gearbeitet, Walfischjagden mitgemacht und überhaupt sehr viel erlebt. Wir saßen beim Abendbrot mäuschenstill, wenn er uns eine Kronwaljagd beschrieb und uns erklärte, daß die Chinesen die Barten dieses Fisches haarfein zerschnitten und in die Seide verwebten, die daher, wenn man sie in der Hand zusammenballe, nach dem Öffnen der Hand wieder elastisch auseinanderspränge. Ebenso lauschten wir, wenn er uns zum Beispiel mit hochgelehrter Miene die Tatsache auftischte, daß aus Walfischexkrementen die herrlichsten Parfüme bereitet würden. Er erzählte auch von einem Eskimoweib, das, auf einer Eisscholle fortgetrieben und dem Hungertode preisgegeben, den eigenen Mann, das Kind und zuletzt den Hund aufgefressen habe. – Willy und Gustav berichteten eines Nachts, von Urlaub kommend, daß sie den Bootsmann an Land getroffen hätten, der mit einem russischen Matrosen herumbummelte und, wie er sich ausgedrückt hatte, »bei sich selbst« schlief. Er ließ mir sagen, ich möchte doch ja nicht auf das russische Schiff gehen.

Wieder kam ein schöner Sonntag. Der Steuermann hatte mit Hermann, Paul und Gustav eine Bootsfahrt unternommen, auf der sie zwanzig große Seesterne erbeuteten. Der Kapitän vom »Russen« hatte unseren Alten besucht. Ich erfuhr aber zu meiner Enttäuschung nicht ein Wörtchen über meine Abmusterung.

Ein Fischer, der gegen Abend in einem Ruderboot längsseit kam, verkaufte uns für einen Dollar zirka 20 Stück Hummer, die[91] der Kapitän unter die Besatzung verteilen ließ, während er für die Kajüte einige Fische und für sich selbst sehr schöne Korallen erwarb. Ich hätte jetzt, wenn ich die Wahl gehabt hätte, eine deutsche Semmel entschieden dem Hummer vorgezogen, besonders, wenn ich die schlimmen Folgen desselben geahnt hätte. Ein Klosett war auf der »Elli«, wenigstens für die Mannschaft, nicht vorhanden. Der Klüverbaum und der darunter rauschende Ozean dienten uns als entsprechende Anlage. Dieser Platz, dessen Betreten mit einiger Lebensgefahr verbunden war, wurde am folgenden Montag auffallend viel in Anspruch genommen. Wir waren alle den ganzen Tag über merkwürdig still. Dann und wann hörte man den einen oder anderen kläglich stöhnen. Am Dienstag waren wir jedoch wieder hergestellt und erzählten uns nun, während wir das Deck teerten, unsere gestrigen Erfahrungen. Von dieser Unterhaltung wurden wir durch einen kleinen, aber eindrucksvollen Zwischenfall abgelenkt. Ein norwegischer Dampfer, der mit auf der Belizer Reede gelegen, lichtete die Anker. Als er an uns vorüberfuhr, erkannten wir den Bootsmann, der hinten am Heck stand und, seine Mütze schwenkend, zu uns herübergrüßte. Auch wir winkten ihm alle zu. Merkwürdig, wie schnell veränderlich unsere Gefühle sind. Der Abschied dieses Mannes, den ich so gehaßt hatte, stimmte mich jetzt wehmütig, und ich wünschte mir in Gedanken, diesen energischen Menschen zum Freund zu haben und ihn auf abenteuerlichen Fahrten begleiten zu dürfen.

Wenn ich annehme, daß der Kapitän gleichgültig über ihn dachte, dann war nur einer auf der »Elli«, der ihm einen grimmigen Blick nachsandte und hinterher erleichtert aufatmete, das war Steuermann. Regungslos hatte er an Deck gestanden und sich sichtlich darüber geärgert, daß wir seinen Feind durch Pfeifen und Mützeschwenken ehrten.

Die Reede von Belize bot manchmal ein buntes Bild. Es lief beispielsweise ein Frachtdampfer ein. Kaum, daß man seinen Anker fallen hörte, sah man auch schon eine Menge Leichterboote vom Land abfahren. Jedes wollte das erste sein, und wie sie nun in toller Wettfahrt über das Wasser hinschossen, glichen sie mit ihren großen Segeln einem Schwarm von Schmetterlingen. Eins der Fahrzeuge rannte dabei so heftig an unseren Klüverbaum, daß sein Mast wie ein Streichholz knickte.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 81-92.
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