Der letzte Tag vergangnen Jahrs

[411] Ich ging auf Abenteuer

Durch finsteres Gassengewirr.

Ein Fenster in schiefem Gemäuer.

Inseits ein leises Geklirr

Und ein kleines, bläuliches Feuer. –

Durchaus ganz geheuer:

Feuerzangen

Bowle. Bin weitergegangen.


Das Eckhaus ist ein Bordell,

Die ganze Stadt weiß es.

Ich ging ganz langsam, nicht schnell,

Wegen des Glatteises

Hin und hinein.

Da saß unterm Christbaum allein

Ein magerer Zuhälter.

Er konnte siebzig, auch älter,

Er konnte auch Lebegreis sein.


Wir wechselten falsche Namen,

Und weil gar keine Damen

Da waren, sangen wir traurig ein Lied,

Seltsam war die Stimme des Greises.

Ich schied,

Schlich langsam wegen des Glatteises.


Das glättste von allen Wintern,

Die je ich erlebt.

Kein Sand gestreut.

Man geht – sitzt auf dem Hintern,

Hat nichts gebrochen – erhebt

Sich wieder – und sitzt erneut.


Quer übern Weg plötzlich lief

Eine Katze. Also: Ich trat

Schnell drei Schritt zurück. Da rief

Hinter mir »Au!« ein Marinesoldat.
[412]

Wir gestanden als Wasserratten,

Was wir zuvor schon getrunken hatten.

Wir haben uns an-ahoit.

Kein Sand war gestreut.

Wir lagen. – Was soll ich lange noch sagen –

Liefen, lagen, liefen –.


Und riefen

Die Damen herunter, wollten was tun,

Wildes, wie Stierkampf oder Taifun.

Doch wir entschliefen

Ohne Weiber unter dem Baum.

Der Lebezuhälter

Pfiff rückwärts im Traum.


Der nächste Tag war viel kälter.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 411-413.
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