Der schwarze Mathes

[99] Im Hinterwinkel steht die unheimliche Hütte. Ich bin vor kurzem in ihr gewesen und hab' den Raufbold Mathes, den Menschen mit der herben Schale gesehen. Es ist ein kleines, hageres Männchen, liegt hingestreckt auf einem Mooslager und hat Arm und Kopf in Fetzen gewunden. Er ist arg verletzt.

Die Fenster der Klause sind mit Lappen verdeckt; der Mann kann das Licht nicht vertragen. Sein Weib, jung und anmutig, aber abgehärmt zum Erbarmen, kniet neben ihm und netzt ihm mit Holzapfelessig die Stirn.[99] Sein Auge starrt sie fast leblos an, aber sein Mund mit den weißen Zähnen ist, als wollte er lächeln. Der Mann riecht stark nach Pechöl.

Als ich eintrete, hocken ein blasser, schwarzlockiger Knabe und ein helläugiges Mädchen zu seinen Füßen und diese Kinder spielen mit Moosflocken.

»Das wird ein Gärtelein,« sagt das Mädchen »und da baue ich weiße Rosen an!«

Der Knabe bildet aus Hölzlein ein Kreuz und ruft: »Vater, jetzt weiß ich es: ich mache den Holdenschlager Freithof!«

Die Mutter erschrickt und verweist den Kleinen das gellende Geschrei; der Mathes aber sagt: »Je, schreien magst sie schon lassen; den Freithof wird auch noch einer brauchen. Aber, eines, Weib, laß dem Lazarus seinen Jähzorn nicht gelten. Um des Herrgotts Willen, nur das nicht! Du schweigst? Du willst mein Wort nicht halten? Meinst etwan, du verstündest es besser, als ich? du! ich sag' dir's, Weib mach' mich nit wild!«

Die Lappen reißt er von den Armen und will sich aufrichten. Das Weib sagt ihm liebreiche Worte und schiebt ihn sanft zurück. Mehr noch aber schiebt die Schwäche und er sinkt auf das Lager.

Die Kinder sind aus der Hütte gewiesen worden, und auf dem sonnigen Wiesenplane bin ich eine Weile bei ihnen gewesen und habe mich mit ihnen unter Spielen und Märchenerzählen ergötzt.

Ein paar Tage später komme ich wieder hinauf. Da geht es dem Kranken ein gut Teil schlechter. Er kann sich nicht mehr aufrichten, wenn die Wut kommt.

Was ihm denn eigentlich fehle?[100]

»So viel geschlagen ist er worden,« hat mir das betrübte Weib mitgeteilt.

Ich bin anfangs durch die Kinder eingeführt worden und genieße im Hause des Mathes einiges Vertrauen. Ich gehe öfters hinauf; ich will allzumal auch das Elend im Walde kennen lernen.

Einmal, als der Mathes in einem ruhigen Schlummer liegt und ich neben dem Lager sitze, atmet das Weib schwer auf, als trüge sie eine Last. Dann sagt sie die Worte: »Ich getrau' mir's wohl zu sagen, auf der Welt gibt es keine bessere Seel', als der Mathes ist. Aber wenn ein Mensch einmal so gepeinigt worden von den Leuten, und so niedergedrückt und so schwarz gemacht, wie er, so müßt' er kein frisch' Tröpfel Blut im Leib haben, wollt' er nicht wild werden.«

Und ein wenig später fährt sie fort: »Ich wüßt' zu reden, ich hab' ihn von Kindeszeit auf gekannt.«

»So redet,« habe ich entgegnet, »in mir habt ihr einen Menschen vor Euch.«

»Lustig ist er gewesen, wie ein Vöglein in den Lüften; hell zuckt hat alles an ihm vor lauter Freud' und Lebendigkeit. Und er hat's damalen noch gar nicht gewußt, daß er zwei großmächtige Meierhöf' erben sollt'; hätt's auch nicht geachtet; am liebsten ist ihm die Erden Gottes gewesen, wie sie daliegt im Sonnenschein. – Wartet nur, 's ist nicht allerweg' so fortgegangen.«

Und nach einer weiteren Weile fährt das Weib fort: »In seinem zwanzigsten Jahr herum mag's gewesen sein, da ist er einmal mit einer Kornfuhr in die Kreisstadt gefahren. Das Fuhrwerk hat ein Überreiter (Gendarm[101] zurückgebracht; der Mathes ist nicht mehr heimgekommen.

»Oho! Heimgekommen schon!« unterbricht sie der Kranke, und will sich heben. – »Es ist nichts Unrechtes, das du erzählst, Weib, aber wissen wirst es nicht recht, bist ja nicht dabeigewesen, Adelheid, wie sie mich erwischt haben. Ich erzähl's selber. Wie ich in der Stadt mein Geschäft fertig hab', geh' ich ins Wirtshaus, daß ich mir ein wenig die Zunge netz'. Auf dem Kornmarkt, müßt' Ihr denken, wird das Red'werk trocken, bis der letzte Sack vom Wagen geschwätzt ist. – Wie ich in die Wirtsstuben tret', sitzen ihrer drei, vier Herren bei einem Tisch, laden mich ein, daß ich mich zu ihnen setz' und mit ihnen Wein trink'. – Freundlich sind die Herren gewesen, eingeschenkt haben sie mir.«

Der Mann unterbricht sich, um Atem zu schöpfen; sein Weib bittet ihn, daß er sich schone. Der Kranke hört es nicht und fährt fort: »Von den Welschen haben sie erzählt, die in Ewigkeit keine Ruh' geben wollen, und von den Kriegszeiten und dem lustigen Soldatenleben; und gleich darauf fragen sie wieder, wie das Korn geraten, was der Scheffel koste. Ich bin lustig worden, hab' meine Freud' gehabt, daß sich mit weltfremden Leuten so schön über allerhand plaudern läßt. Da hebt einer das Glas: unser König soll leben! – Wir stoßen an, daß schier die Gläser springen; ich schrei dreimal lauter als die andern: der König soll leben!« – Der Kranke bricht ab, es zittern ihm die Lippen. Nach einer Weile murmelt er: »Mit diesem Ruf ist mein Unglück angegangen. – Wie ich wieder fort will, springen sie auf, halten mich fest: oho, Bursch, du bist unser! – Unter die Werber bin[102] ich geraten. Fortgeführt haben sie den jungen, noch gar nicht ausgewachsenen Menschen; – unter die Soldaten haben sie mich gesteckt und verkauft bin ich gewesen.«

Mit den knochigen Fingern zerballt der Mathes eine Moosflocke.

»Gräm' dich nicht, Weib,« stößt er hervor, »bin schon besser. Mit meinen letzten Worten will ich das Gezücht' noch niederschlagen. Das kann ich wohl sagen: auf weitem breiten Feld bin ich nicht so wild gewesen, wie dazumal. – Heim hätt' ich mögen, heim hat's mich zogen mit schweren guldenen Ketten. Und einmal, mitten in der stürmischen Winternacht bin ich fort und heimzu geflohen. Im Rainhäusel hab' ich mich aufgehalten bei meiner alten Base. Und jetzt haben mich meine eigenen Landsleute verraten. Auf einmal sind die Überreiter da, daß sie mich fangen. Just, daß ich noch aus dem Häusel und in den Wald hinaufhusch' und denk', wenn sie mich überlistet haben, so überlist' ich sie wieder. Zwei große Fanghunde haben umhergeschnuppert, aber ich bin durch den Bach gelaufen und in demselben eine gut Läng' hinan, daß die Äser meine Spur haben verloren. Und die Überreiter im Häusel haben alles durchstöbert; ins Bettstroh und ins Heu haben sie gestochen mit ihren Messern, die Höllteufel, und die ganze Hütte hätten sie schier umgestürzt. Wie sie mich aber nicht haben gefunden, hat einer sein Brennscheit meiner alten Base auf die Brust gesetzt: auf der Stell' sag', wo er ist, oder ich schieß dich nieder wie einen Hund! – Ja, da ist er gewesen, und wo er jetzt ist, das kann ich nicht sagen. – Vor die Tür hinaus haben sie drauf das Weibel geschleppt, drei Gewehrläuf' sind auf ihre Brust gerichtet und insgeheim[103] haben sie ihr zugemunkelt: aber gleich schrei, so laut du kannst: geh nur her, Hiesel, die Überreiter sind lang' schon wieder davon! Willst es nicht tun, wirst morgen begraben. Von all dem hab' ich im selbigen Augenblick nichts gewußt, wie ich so im Dickicht versteckt bin. Hab' aber lang gelauert und gemeint, es wäre hell erlogen, daß sie mich fangen. Da hör' ich die Base rufen: geh her, Hiesel, die Überreiter sind lang' schon davon! – Ich spring' auf und der Hütte zu, da seh' ich das Weibel die Händ' über den Kopf zusammenschlagen, da hör' ich schon das Lachen und ich steh' mitten drin unter den Überreitern. Herrgotts Kreuz! da bin ich wohl nach meinem Taschenfeitel gefahren! Hat mir aber einer den Kolben an den Arm geschlagen. – Und ein paar Tag darauf geht's über mich los. – Die funfzig Rutenstreiche damalen haben den Teufel in mich hineingeschlagen. – Mein zerfetzter Rücken ist mit Essig und Salz eingewürzt worden, der Heilung wegen. Es hat Eil' gehabt. Der Welsche ist ins Land gefahren, wie der bös' Feind. Da bin ich freilich auch in die Hitz' gekommen und hab' drein gefeuert. Ein' einzige Pulverladung hab' ich noch gehabt, wie der Feind ist zurückgeworfen; für dieselbig' Kugel hätt' ich noch wen andern gewußt; bei uns herüben auf hohem Roß. Aber das nicht, das nicht! hab' ich mir gedacht, Aug' in Aug' ist gescheiter. Und nachher bin ich wieder durchgegangen in die Heimat.«

»Und wenn Ihr Eure Heimat so geliebt, warum habt Ihr nicht für sie streiten wollen?« unterbreche ich ihn, »warum seid Ihr davongegangen?«

»Mag sein, daß es eine Schurkerei gewesen,« sagt der Mathes, »mag sein. Oder 'leicht – mag's auch nicht sein.«[104]

»Mag das sein, wie es will,« ist meine Antwort, »ich kenne einen Mann, der hat nicht nur nicht für sein Land gestritten, sondern gegen.«

»Ich bin in meiner Heimat nicht verblieben,« fährt der Mathes fort, »mein Eigentum hab' ich im Stich gelassen und hab' mich, daß sie mich nimmermehr finden, in diese hinterste Wildnis verkrochen. – Gehetzt, gehetzt, Herr Jesus! Und dahier bin ich erst das wilde Tier worden. Mein Weib, du weißt es.«

Ein stöhnender Aufschrei war es gewesen; aber die Worte sind wie im Entschlummern gelallt. Er schweigt und schließt die Augen. Wie ein letztes Auflodern und ein Verlöschen.

»Für einen Hascher haben ihn die Leut' gehalten, da er ist zurückgekommen,« setzt das Weib fort, »Groschen und Pfennige haben sie zusammengeworfen in einen Hut und ihn denselbigen Hut wollen schenken. Dafür hätt' der Mathes bald ein paar totgeschlagen; er will nichts geschenkt haben. Wie ihn darauf die Leut' zu Dutzenden verfolgt, ist er auf einen Lärchenbaum geklettert, hat sich von einem Wipfel auf den andern geschwungen wie eine Waldkatz; und da haben die Leut' gesehen, daß er doch wer ist. Aber das Hieselein haben sie ihn spottweise geheißen. – Nachher – ja freilich wohl – hat er sich ein Mädel ausgesucht –«

»Das allerschönste im Wald!« unterbricht sie der Kranke wieder, »und ein solcher Hoffartsteufel ist in ihm gewesen, daß er – der Halbkrüppel – demselbigen Mädchen die Treu' nur versprochen, im Fall er kein schöneres mehr sollt' finden. Heiliges Kreuz, was ist da nicht gerauft worden! Andere haben das Mädel auch haben[105] wollen. Dem Vornehmsten und Saubersten hab' ich die Adelheid an der Nase vorbei heimgeführt, und eine Bravere hätt' ich nimmer finden mögen.«

Wieder schweigt er und überläßt sich dem Halbschlummer.

»Fürchterliche Schläg' hat er oftmalen bekommen,« sagt das Weib, »aber auf den Füßen ist er geblieben, und da hat ihn einer herumschleudern mögen, wie der Will'. Zu jedem Samstagabend hat er sein Messer geschärft für das Erlholzschneiden; aber oftmalen hab' ich gebeten: lieber Mann, um Christi willen, laß das Messerschärfen sein! – Allerweg hat's mir geschwant, einmal werden sie ihn bringen auf der Tragbahr. – Und sonst, wenn er nüchtern gewesen, da hat's gar keinen besseren, fleißigeren und hilfreicheren Menschen gegeben im ganzen Waldland, als den Mathes. Da hat er lustig sein und wie ein Kind lachen können. Freilich ist ihm, weil er Soldatenflüchtling, sein Heimatsgut draußen im Land verfallen gewesen; aber mit bluteigenen Händen hat er die Kinder ernährt, und gar für andere Leut', die sich nichts mehr erwerben mögen, hat's noch gelangt. Wegen seiner Redlichkeit und Verläßlichkeit haben sie ihn im Holzschlag zum Meisterknecht gemacht. Und dennoch hat zum Sonntag der Wirt die Händ' über den Kopf zusammengeschlagen, ist das Hieselein gekommen, das sie nun schon allfort das schwarze Hieselein geheißen haben. Ist es auch voll Gemütlichkeit zur Tür hereingegangen, so ist doch darauf zu schwören gewesen, daß es ohne Raufen nicht abgeht. Er hat's nicht lassen mögen. Dasselb' ist aber wahr, nüchtern geworden, hat er jedem alles wieder abgebeten. – Zuletzt aber, du meine heilige Mutter Gottes, da ist[106] das Abbitten nicht mehr angegangen. – Die Holzschläger sind all' zusamm' gekommen, daß sie dem Raufer, gleichwohl er ihr Meisterknecht, im Wirtshaus den Herrn einmal zeigen. Erstlich, wie sie sehen, daß er Branntwein trinkt, ein Glas ums andere, haben sie angefangen, ihn zu necken und zu höhnen, bis er wild wird und drein fährt. Sie sind all' über ihn her. Und zur selbigen Stund' hat ihn der Schutzengel verlassen; eine Hand frei, fährt er nach dem Messer, stößt es dem Köhler Bastian in die Brust. – Jetzt haben sie den Mathes geschlagen, daß er liegen geblieben auf der Erden. Zwei Wurzner haben ihn heimgetragen.«

Drauf spricht er: »Das aber sag' ich, daß ich so nicht versterben mag. Aufsteh' ich und geh' zum Gericht, und klag' andere an, daß ich den Bastian hab' erstochen. Von den hinterlistigen Werbern an, die mich aus meinem Jugendfrieden in die blutige Welt geliefert haben, wo ich geschändet worden – – bis auf den Köhler Bastian, der mir mit Hohn und Spott selber noch das Messer aus der Scheiden hat gelockt – – alle ruf' ich vor den Richterstuhl, alle müssen dabei sein, wenn mir der Henker den Hals bricht.«

Das Weib kreischt auf; der Mann sinkt röchelnd auf das Moos zurück.

Da hüpfen und jauchzen die Kinder zur Tür herein. Sie zerren ein weißes Kaninchen bei den Ohren mit sich, lassen es in der Stube frei und der Knabe verfolgt es. Das bedrängte Tier hüpft zum Mooslager und dem Kranken über die Beine. Im Winkel bleibt es sitzen und schnuppert und sieht mit seinen großen Augen angstvoll hervor. Der Knabe schleicht ihm bei und erwischt es bei[107] den Beinen. Da winselt es und beißt den Verfolger in den Finger. – »Wart du! wart du, Rabenvieh!« wütet der Knabe und wird glührot im Gesicht, und seine Finger graben sich krampfig in den Hals des Tieres – und ehe noch Mutter und Schwester dazwischen kommen – ist das Kaninchen tot.

Der Mathes schlägt sich die Hände in das Gesicht und ruft: »Jetzt lebt der Zornteufel auch in meinen Kindern fort, das muß ich noch erfahren!«

Wenige Minuten hernach bricht der Mann in Tobsucht aus. Noch an demselben Abend ist er gestorben.

Den schwarzen Mathes haben sie im Wald eingescharrt. Das Weib hat unsäglich geweint auf dem Hügel, und als sie endlich von dannen geführt ist worden, da ist der Einspanig gekommen und hat auf das Grab ein Tannenbäumlein gepflanzt.


Am Tage der Geburt Mariens 1814


Und so bin ich in den Winkelwäldern herumgegangen. Ich bin im Hinterwinkel gewesen und in den Miesenbachschluchten, und in den Karwäldern und in den Lautergräben und in der Wolfsgrube und im Felsentale und auf den Triften der Almen, und drüben in der Senke, wo der schöne See liegt. Ich habe diese wundersame Alpengegend kennen gelernt und zum großen Teile auch die Menschen, die in ihr wohnen. Ich habe mich bei den Alten eingeführt und mit den Jungen bekannt gemacht. Es kostet Mühe und es gibt Mißverständnisse. Die besten dieser Leute sind nicht so gut und die schlechtesten nicht so schlecht, als ich mir vorzeiten gedacht[108] habe. Ein paar Ausnahmen aber – deucht mir schier – gibt es doch.

Ich muß sogar ein wenig unredlich sein; sie dürfen es nicht wissen, weshalb ich da bin. Viele halten mich für einen Flüchtling und sind mir deshalb gewogen. Ein Mensch, den diese Wäldler gern haben mögen, muß von der Welt verachtet und verbannt sein, muß schier so wild und glück- und sorglos sein, wie sie selbst. Ich habe mich denn auch um eine Arbeit umsehen müssen. Ich flechte Körbe aus Rispenstroh und Weiden, ich sammle und bereite Zunder, ich schnitze aus Buchenholz Spielsachen für Kinder. Ich habe mich schon so sehr in dem Zutrauen der Leute befestigt, daß sie mich das Schärfen der Arbeitswerkzeuge lehren, so daß ich den Holzschlägern die Beile und Sägen scharf zu machen verstehe. Das bringt mir manchen Groschen ein und ich nehme ihn an – muß ja angewiesen sein auf meiner Hände Arbeit, wie alle hier. In meiner Stube sieht es bunt aus. Und da sitze ich, wenn draußen schlecht Wetter oder der lange Herbstabend ist, zwischen den Weidenbüscheln und Holzstücken und den verschiedenen Werkzeugen, und schaffe. Selten bin ich allein dabei; es plaudert mir meine Hauswirtin vor, oder es sitzt ein Pecher oder Wurzner, oder Kohlenbrenner neben mir und schmaucht sein Pfeifchen und sieht mir schmunzelnd zu, wie ich das alles anfange und zu Ende bringe, und greift letztlich wohl gar selber an. Oder es sind Kinder um mich, denen ich Märchen erzähle, oder die mit den Schnittspänen spielen, bis auch das Spielzeug in meiner Hand fertig ist. An Sonntagen sitzt gar der Förster stundenlang bei mir und hört meine Erfahrungen und Pläne wegen der Winkelwaldleute. Wir[109] besprechen allerlei, und zuweilen schreibe ich einen langen Brief an den Herrn des Waldes.

Die Holzschläger, die früher drüben in den Lautergräben gerodet haben, ziehen sich immer mehr gegen das Winkel herüber, und schon einige Male hab' ich durch den stillen Wald das Donnern eines fallenden Baumes vernommen. Von der Lauterkuppe schaut seit einigen Tagen eine blaßrote Tafel herab, die sich von Tag zu Tag ausdehnt und in der Morgensonne fremd zwischen dem dunkeln Grüne des Waldes niederleuchtet.

In den Schluchten der Winkel gegen die Straße hinaus arbeiten Steinbrecher und Teichgräber; es wird ein Fahrweg angelegt, daß die Kohlen und Holzstämme besser hinausbefördert werden können.

Ich gehe gern zu den Arbeitern herum und sehe ihnen zu, und spreche mit ihnen, auf daß ich mir in den Dingen einige Erfahrungen sammle.

Zuweilen aber sind die Leute doch ein wenig mißtrauisch gegen mich und begegnen mir mit ihren Vorurteilen. Ich trage gern ein Büchel von Wolfgang Goethe mit mir herum, und wo so ein schönes lauschiges Plätzel ist, da setze ich mich auf einen Rasen oder auf einen Stein und lese in dem Buche. Dabei bin ich schon mehrmalen aus dem Hinterhalte beobachtet worden. Und da schleicht im Walde das Gerücht herum, ich sei ein Zauberer und hätte ein Büchlein mit lauter Zaubersprüchen.

Ich habe nachgedacht, ob mir dieser seltsame Nimbus für meine Pläne anfangs nicht einigen Vorteil brächte. Gewiß sind die Eltern leicht zu bewegen, ihre Kinder von mir das Lesen lernen zu lassen, wenn ich ihnen sage: versteht einer nur erst die Zaubersprüche in dem Büchlein,[110] so kann er teufelbeschwören, schatzgraben, wettermachen, oder je nach Bedarf die Wettermacher unschädlich halten nach Belieben. Ich denke, daß selbst Erwachsene und gar Grauköpfe ihre Arbeitswerkzeuge fallen lassen und zu mir in die Schule gehen würden. – Von mir aber wäre es schändlich und ich täte dadurch nur das Verkehrte er reichen von dem, was ich will. Nicht, daß die Leute lesen und schreiben lernen ist die Hauptsache, sondern, daß sie von den schädlichen Vorurteilen befreit werden und ein reines Herz haben. Freilich könnte ich ihnen später Bücher der Sittenlehre unterschieben und sagen: da drin stehen die echten Zaubersprüche, aber die Getäuschten hätten kein Vertrauen mehr zu mir, und das Übel wäre größer, anstatt kleiner.

Nicht auf Umwegen wollen wir schleichen; eine gerade Straße hauen wir durch das Urgestämme.

Ich habe aus dem Buche den Leuten einige Male Lieder vorgelesen; den Mädchen das »Heideröslein« und den Burschen das »Christel« gelehrt. Gleich haben sie – ich weiß gar nicht, woher – eine Weise dazu, und jetzt werden die Lieder im Walde schon gesungen.


Und so ist nun der Herbst gekommen. Der Himmel ist, wenn die Morgennebel in den Tälern sich lösen, hell und rein und alle Wolken sind aufgesogen. Die Nadelwälder sind dunkelbraun, die Laubhölzer sind gelb oder rot, und auf der Talwiese grünt es frisch, oder es liegt auf derselben das Silber des Reifes. In diesen Wäldern ist der Herbst buntfarbiger und fast lieblicher, als der Lenz. Der Frühling ist ein übermütiges Glitzern und Schillern, Singen und Jauchzen allerwege; der Nachsommer[111] hingegen ist, wie ein stiller, feierlicher Sonntag. Da horcht und gehorcht nichts mehr der Erde; da lauscht alles ahnungsvoll dem Himmel und der Atem Gottes säuselt stimmungsvolle Lieder durch die goldenen Saiten der milden Sonne.

Der Himmel ist ja so redlich geworden, er hält tagsüber mehr, als er des Morgens mit seinen nebeltrüben Augen verspricht. Man schaut in sein blaues, stilles Aug' ....

Dort sitzt an einem Waldfeuer der Hirtenknabe. Er tut runde Dingelchen aus dem Sack und schiebt sie in die Glut.

»Sage mir, Junge, woher hast du die Erdäpfel?«

Er wird rot und sagt: »Die Erdäpfel, die – die hab' ich gefunden.«

»Gesegne dir sie Gott, aber ein andermal finde sie nicht mehr, sondern gehe die Winkelhüterin an, wenn du Hunger hast; sie schenkt sie dir.« – Geschenkte schmecken nicht, gefundene tun's besser, ist auch das Salz schon dabei, gelt?

Dort steht ein Strauch, der hat sich gestern abends mit einem Kettlein von Tauperlen geschmückt; heute ist der Tau erstarrt und brennt der Pflanze schier das Herze ab.

Ich habe an einem solchen Nachsommertage einmal eine sehr alte Frau im Walde sitzen gesehen. Diese Frau hat einst ein Kind gehabt. Das ist in die neue Welt gegangen, ins heiße Brasilien, um das Gold zu suchen. Der herbstliche Gesichtskreis ist so grenzenlos klar, daß die Mutter in die ferne Vergangenheit vermag zu schauen, wo der Liebe Knabe steht. Sie schaut ihn an, sie lächelt ihm zu, sie schlummert ein. Am andern Morgen sitzt sie[112] noch auf dem Stein und hat einen weißen Mantel um. Der Schnee ist da, der Nachsommer ist vorbei. Und über das Wasser schifft ein Blatt Papier, das zieht gegen die heißen Zonen Südamerikas. Einem sonnenverbrannten Mann gibt es Nachricht vom fernen Daheim: Mutter im Walde gestorben. – Ein kleines Tränlein windet sich mühsam zwischen den Wimpern hervor, die Sonne saugt es rasch auf und nach wie vor heißt die Losung: Gold! Gold!

Käme noch ein einziger Brief zurück ins alte Mutterland, er müßte erzählen: der Sohn im Golde erdrückt. –

Was träume ich hier? Es ist der Weltlauf, der mich nichts angeht. Ich will Frieden haben mitten im stillen Herbsten dieses Waldes.

Dort oben in der Buchenkrone löset sich ein müdes Blättchen los, sinkt von Ast zu Ast und tänzelt an unendlich zarten schillernden Spinnfäden vorüber und hernieder zu mir auf den kühlen Grund. – Die Menschen in der Ferne, mit denen ich vormaleinst gelebt, was werden sie treiben? Das außerordentliche Mädchen blüht immer – immer – auch im Herbst; – im Sachsenland werden die dürren Blätter wehen über Gräbern ....

Einsamkeit kann einsam Leid nicht bannen. – – Ich muß mich nach Dingen umsehen, die mich zerstreuen und erheben und die mich nicht einseitig werden lassen in meiner Umgebung.

Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben; ich habe mit meinen Augen aus Büchern herausgelesen, wie die Eriken leben und die Heiderosen und andere; und ich habe mit meinen Augen dieselben Pflanzen betrachtet,[113] stunden- und stundenlang. Und ich habe keine Beziehung gefunden zwischen dem toten Blatt im Buche und dem lebendigen im Walde. Da sagt das Buch von der Genziane, diese Pflanze gehöre in die fünfte Klasse, unter dieser in die erste Ordnung, komme in den Alpen vor, sei blaublütig, diene zur Medizin. Es spricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stempel und Fruchtknoten usw. Und das ist der armen Genziane Tauf- und Familienschein. O, wenn so eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern gezeichnete Beschreibung selbst lesen könnte, sie müßte auf der Stelle erfrieren! Das ist ja frostiger, wie der Reif des Herbstes.

Das wissen die Waldleute besser. Die Blume lebt und liebt und redet eine wunderbare Sprache. Was wissen die nicht von der Schlüsselblume, vom Frauenschühlein, vom Muttergotteshäuberl, vom Schneeglöckel, vom Vergißmeinnicht für schöne Geschichten! So gaukeln die kleinen Blumenseelen im Gemüte des Älplers umher. – Aber ahnungsvoll zittert die Genziane, naht ihr ein Mensch; und mehr bangt sie vor dessen leidenschaftglühendem Hauche, als vor dem todeskalten Kusse des ersten Schnees.

So bin ich der nicht Verstehende und Unverstandene. Sinnlos und planlos wirble ich in dem ungeheuren lebendigen Rade der Schöpfung.

Verstünde ich mich nur erst selbst. Kaum nach dem Fieber der Welt zur Ruhe gekommen und mich des Waldfriedens freuend, drängt es schon wieder, einen Blick in die Ferne zu tun, so weit des Menschen Auge kann reichen. – Dort auf der blauen Waldesschneide möcht' ich stehen und weit hinaus ins Land zu anderen Menschen[114] sehen. Sie sind nicht besser wie die Wäldler und wissen auch kaum mehr; jedoch sie sterben und ahnen und suchen dich, o Herr! ....

Quelle:
Peter Rosegger: Die Schriften des Waldschulmeisters. Leipzig 1913, S. 99-115.
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