II.

[222] Jahre waren dahingegangen. Das Leben, immer ernster und vielgestaltiger mit strengen Forderungen an mich herantretend, hatte sich mir in seiner wahren Bedeutung enthüllt, und ich dachte kaum mehr meines kurzen Aufenthaltes im Schlosse Reichegg. Aus den öffentlichen Blättern hatte ich zwar entnommen, daß der Graf mit dem Tode abgegangen sei. Durch die Zeitereignisse gestürzt, den Untergang alles dessen erlebend,[222] was er begründen half, war ihm bei dem großen Wandel der Dinge nichts übriggeblieben, als zu sterben. Auch hatte ich nach dem Feldzuge des Jahres sechsundsechzig in den Verlustlisten einen Major Egon Baron Rödern als tot verzeichnet gefunden. Von der Gräfin und Raphaela jedoch vernahm ich nichts mehr. Neue Verhältnisse hatten neue Erscheinungen in den Vordergrund gestellt; die schöne, einst so gefeierte Frau war vergessen und blieb mit ihrer Tochter verschollen – für diejenigen wenigstens, die mit ihren Kreisen nicht in Berührung kamen. – –

Da traf es sich, daß ich bei einem kurzen Aufenthalte in der Lagunenstadt vor einem Kaffeehause des Markusplatzes saß. Es war noch ziemlich früh am Tage, und nur wenige Menschen beschritten die prächtigen Quadern, auf welche die Sonne hell und glänzend niederschien. Plötzlich zeigte sich, von der Stadtseite kommend, unter den Arkaden ein vornehm aussehendes Paar in Reisekleidern; ein Herr und eine Dame, die Arm in Arm einhergingen. In dem ersteren erkannte ich sofort einen aus der Mode gekommenen Wiener Tonkünstler, der einst als Virtuose glänzende Erfolge zu verzeichnen gehabt hatte und von den Frauen sehr gefeiert worden war. Auch die Dame mutete mich nicht völlig fremd an; diesem hohen Wuchse, diesen stolzen und doch geschmeidigen Gliederbewegungen mußte ich schon irgendwo begegnet sein. Als mir die beiden näher gekommen waren, trat ein Blumenmädchen mit erhobenem Korbe auf sie zu. Die Dame blieb stehen, hielt ihren Begleiter, der vorbeischreiten wollte, am Arme fest – und nun zuckte ich zusammen: ich hatte mit einer dem Erschrecken verwandten Empfindung die Gräfin erkannt! Ihr Antlitz konnte zwar, trotz der weißen Schminke, die darüber lag, noch immer schön genannt werden, aber alles Milde und Liebliche, das früher so sehr entzückte, war daraus verschwunden, und ein herrschsüchtiger, rücksichtsloser, durch das herannahende Alter gereizter und erbitterter Wille hatte sich mit verletzender Schärfe in jedem einzelnen[223] Teile ausgeprägt. Einen noch traurigeren Anblick bot der Mann an ihrer Seite dar. Er war auffallend rasch gealtert, seine Haltung erschien nachlässig und gebückt, während in seinen nicht unedlen Zügen ein unsäglich öder, trostloser Ausdruck von stummer Duldung und verbissenen Qualen lag, der zu seinem früheren selbstbewußten Auftreten in peinlichem Widerspruche stand und die traurigsten Vermutungen wachrief. Mit scheuer, verdrossener Lüsternheit blickte er von der Seite nach dem jungen, großäugigen Geschöpfe, das, ein dünnes Korallenschnürchen um den bräunlichen Hals, vor der Gräfin stand. Er schien froh zu sein, als diese endlich eine Anzahl kleiner Sträuße ausgewählt und mit unangenehmen Lächeln mehrere Silbermünzen in den Korb des Mädchens geworfen hatte. –

Ich konnte mich nicht enthalten, den beiden in einiger Entfernung bis auf die Riva zu folgen, wo sie eine Gondel heranwinkten. Sie stiegen ein und ließen sich hinausrudern in die blaue, schimmernde Wasserfläche, wie von einem dunklen Sarge umschlossen. Es waren zwei Tote. – –

Langsam kehrte ich über die Piazetta wieder zurück. Düster und schweigend lagen die alten Paläste da und wehten mich in ihrer verfallenden Pracht mit den Schauern der Vergänglichkeit an. – Wie lange war es her, da umflatterte noch das schwarzgelbe Banner Österreichs den weitausblickenden Turm, und unter den mächtigen Säulenhallen wogte das bewegte, glänzende Leben verhaßter Fremdherrschaft auf und nieder. Nun war Venedig frei – aber auch stiller, einsamer, öder geworden. Und wie hatte sich dieser Wandel vollzogen! Langsam, schrittweise, doch unaufhaltsam, trotz aller Gegenbestrebungen. Erschien es doch wie tragische Ironie, als man zuletzt ratlos die Erfüllung in die Hand des Mannes legte, der damals an der Seine über das Los der Völker entschied! Unwillkürlich mußte ich des toten Grafen und seiner stolzen Überzeugungen gedenken; es war mir, als ginge sein Schatten neben mir her, scheu und finster. – Und seine Tochter? Wo weilte sie? Hatte sie sich,[224] wie Rödern damals vorausgesetzt, zurechtgefunden, oder war sie ein einsamer Fremdling geblieben in dieser Welt voll Irrtum und Schuld; in dieser Welt, wo nichts Bestand hat, als der Schmerz, und selbst das Höchste, Bedeutsamste allmählich vergeht und verweht, als wäre es nie gewesen? – – –

Und nun hatte mir die Zeit, die alles enthüllt und selbst das Getrennteste nach und nach zusammenführt, auch diese Frage beantwortet ....


* * *


»Du bist heute sehr schweigsam«, sagte der Kranke, der inzwischen wieder die Augen aufgeschlagen hatte. »Was hast du?«

»Nichts – ich werde es dir später mitteilen. Jetzt will ich mir die Oberin ansehen, von der uns der Doktor erzählt hat.«

Damit verließ ich das Zimmer und begab mich in den Hof hinunter, wo sich bereits eine Schar von Kranken beiderlei Geschlechtes, wohl in gleicher Absicht, eingefunden hatte. Wir mußten uns lange gedulden. Endlich kam sie, von einer jüngeren Ordensschwester, dem Direktor der Anstalt und den Ärzten begleitet, die Treppe herunter. Ruhig und würdevoll, die ernsten blauen Augen vor sich hingerichtet, durchschritt sie die Reihen der Harrenden, mit leisem Senken des Hauptes dargebrachte Grüße erwidernd. Die Flucht der Jahre hatte ihrem Antlitz bis auf einige Fältchen um den Mund keinerlei Spuren eingedrückt, vielmehr erschien sie jetzt in erhabener, vergeistigter Schönheit, mit welcher die weiße Beguine, der dunkle Faltenwurf der Gewänder und das goldene Kreuz vor der Brust in ergreifendem Einklange standen.

Draußen wurde der Kutschenschlag geöffnet – und die Oberin fuhr durch das Menschengewühl belebter Gassen ihrem Kloster zu, das, wie ich später sehen konnte, am äußersten Ende der Stadt auf einer sanften, wipfelbeschatteten Anhöhe lag.[225]

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 8, Leipzig [1908].
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