III.

[139] Gleich am Nachmittage suchte ich den Adjunkten auf. Er hörte mich einigermaßen verwundert an und fragte lächelnd, wie ich dazu käme, den Fürsprecher der jungen Troglodytin zu machen. Darauf war ich vorbereitet und konnte daher ohne jede Verlegenheit auseinandersetzen, daß sich das Mädchen zu großem Verdrusse der Försters tagelang im Revier umhergetrieben, daß ich ihr endlich ins Gewissen geredet und sie bestimmt habe, sich Sonntags im Wirtschaftshofe zu stellen und um Beschäftigung zu bitten. Und am Ende seien wir ja infolge unseres Amtes berufen, uns der Leute anzunehmen, da man sich von seiten der Ortsobrigkeit gar nicht um sie kümmere.

›Gewiß,‹ antwortete er, ›und an mir soll's nicht liegen, wenn das verlotterte Ding etwa klagen sollte, daß man es rettungslos verkommen lasse. Auch kann ich ja eben jetzt nicht genug rührige Hände finden. Aber ich gestehe Ihnen offen, daß ich zu ihrem guten Willen kein rechtes Vertrauen zu fassen vermag. Und selbst wenn sie die redlichste Absicht hätte, so wird sie diese ihrer Natur gegenüber nicht durchsetzen können – gerade so wenig, wie ihre Eltern, die ja auch hin und wieder derlei Anwandlungen gehabt haben. Es sind nun einmal degenerierende Menschen, denen die Arbeitsscheu im Blute steckt. Ein paar Tage, höchstens eine Woche lang greifen sie zu; dann lassen sie plötzlich alles liegen und stehen und strecken sich wieder auf die faule Haut. Das scheint, wie gesagt, auf rein physischen Gesetzen zu beruhen, die selbst dem äußeren Zwange spotten. Wie es mit dem Bruder in dieser Hinsicht abgelaufen ist, wissen Sie ja; ich fürchte, die Schwester wird einen ähnlichen Ausgang nehmen. Aber wie gesagt, wenn sie kommt, ist sie angenommen. Einige von den Weibern und Mädchen, die im Grunde nicht um gar vieles besser sind, werden wohl die Nase rümpfen, wenn sie mit der abgestraften Diebin[140] aufs Feld hinaus sollen, aber das gibt sich in wenigen Tagen und braucht uns nicht zu kümmern.‹

Montags, in aller Frühe, begann die Rübenhacke, und ich suchte einen erhöhten Punkt am Waldrande auf, um der Arbeit von weitem zuzusehen. Während der Nacht hatte es heftig gewittert; nun war die Luft durchsichtig klar, und ein kühler Wind strich von Norden her über die Felder, die sich zu beiden Seiten der Landstraße weithin ausdehnten. Wie Smaragd stachen die Rübenpflanzungen von dem gelblich wogenden Getreide ab, und die bunten Kopftücher der Arbeiterinnen, die sehr zahlreich in tief gebückter Haltung auf dem grünen Plan beschäftigt waren, flatterten wie seltsame große Blumen. Ich bemühte mich, Maruschka unter der zerstreuten Schar herauszufinden, aber es wollte mir nicht gelingen, und schon begann ich zu zweifeln, daß sie ihren Vorsatz ausgeführt – als ich sie plötzlich auftauchen sah, nunmehr deutlich erkennbar an den farblos dunklen Lumpen, die sie noch immer am Leibe trug; nur ein neues, feuerfarbenes Kopftuch hatte sie sich bis jetzt mit meinem Gelde zugelegt. Sie war also wirklich gekommen – sie arbeitete! Zufrieden blickte ich noch eine Weile auf das bunte Bild, dann ging ich meinen Geschäften nach.

Gegen Abend fühlte ich mich plötzlich unwohl. Ich mußte mich irgendwie erkältet haben, und als ich zu Bett ging, stellte sich Schüttelfrost samt einer starken Halsentzündung ein, die mich einige Tage im Hause fest hielt; währenddessen aber war die Arbeit auf den Rübenfeldern zu Ende geführt worden.

Hingegen folgte schon in der nächsten Zeit die Heuernte, und eine große, an den Ort grenzende Wiese wurde zuerst in Angriff genommen. Da ich an diesem Tage zufälligerweise im Schlosse zu tun hatte, wo eben zwei junge Grafen zur Bürsch angekommen waren, so konnte ich bei meiner Rückkehr das rüstige Treiben in der Nähe betrachten und trat endlich selbst hinein. Obgleich die Sonne noch nicht sehr hoch stand, herrschte doch schon die ganze drückende Schwüle des Juli. Der Schweiß[141] der Arbeit floß in Strömen; dennoch war es eine Freude, zu sehen, wie die Leute, Männer und Weiber vereint, lustig die Sensen schwangen und die langhalmigen Gräser, in welchen sie bis an die Hüften standen, vor sich niederlegten. Auf dem bereits abgemähten Teil der Wiese wurde in großen Kreisen eine neue Maschine herumgefahren, welche bestimmt war, die duftigen Schwaden zu wenden und leicht auszubreiten. Dort konnte man auch den Adjunkten gewahren, der eifrig hin und her schritt, seinen Feldstock schwingend. Als er meiner ansichtig wurde, rief er schon von weitem: ›Grüß Gott, Herr Waldkollege! Ihr kommt wohl, um nach meiner Schutzbefohlenen zu sehen? Aber die werdet Ihr hier nicht finden. Was ich vorhergesagt, ist eingetroffen. Zwei Tage lang hat sie bei den Rüben gearbeitet, dann verschwand sie. Wenn aber dennoch Euer Herz nach ihr verlangt,‹ fuhr er etwas ironisch fort, ›so schaut nur dorthin!‹ Er wies dabei mit seinem Stocke nach einem hohen Mühlendamm, der sich am Rande der Wiese hinzog. Und wirklich: dort oben saß Maruschka am Fuße eines morschen Weidenstrunkes, der einzelne junge Triebe in der Sonne glänzen ließ. Sie selbst aber trug noch ihre alte Kleidung, und so zeichnete sich die ganze Gestalt finster und unerfreulich gegen den lichten Horizont und seine weiß schimmernden Wolken ab. Das feuerfarbene Tuch hatte sie auf den Knieen liegen, in ihrem Haar funkelte ein Büschel roter Mohnblumen. So blickte sie, die Arme aufgestemmt und das Kinn mit den Händen stützend, auf die emsige Schar zu ihren Füßen nieder.

›Es ist freilich bequemer,‹ fuhr der Adjunkt fort, ›sich die Sache aus der Vogelperspektive mit anzusehen. Dennoch begreift unsereiner gar nicht, wie der Dirne der Tag hingehen mag; das ewige Faulenzen und Vagieren muß doch auch seine Pein haben. Und was sie nur dabei denken mag? Denkt sie überhaupt an oder über etwas? Wer vermag sich in die Seele eines solchen Wesens zu versetzen? Ich habe mich schon öfter gefragt, was sie denn eigentlich abhalten mag, die Pfade[142] des am nächsten liegenden und dabei bequemsten Lasters zu beschreiten; des Erfolges wäre sie ja sicher. Denn trotz ihrer Verwahrlosung, ihrer breiten Backenknochen und der etwas platten Nase ist sie doch eine Schönheit, eine echt slawische Schönheit. Hier im Orte könnte freilich ihr Weizen nicht blühen; aber sie brauchte ja nur eine Fußreise nach Brünn anzutreten, dort gibt es Seelenverkäuferinnen genug, die sie mit offenen Armen empfangen würden. Es kann also doch nur wieder die Macht der Trägheit sein, was sie an das gewohnte heimatliche Elend festbannt. Merkwürdig ist es übrigens, daß sich hier nicht wenigstens irgend ein verkommener Bursche an sie macht. Ich kann zwar für ihre Tugend nicht einstehen, aber gewiß ist, daß ich sie niemals mit irgend etwas Männlichem habe verkehren sehen; sie treibt sich immer mutterseelenallein umher. Wäre sie überhaupt fähig, zu lieben? Ja, das sind lauter Probleme, lieber Freund, und wenn man sich so in der Lage befände, wäre es ganz interessant, sie in andere Verhältnisse zu versetzen und zu beobachten, was dabei herauskäme, welche ungeahnten Eigenschaften sie vielleicht entwickeln würde – – Aber Teufel, was treibt denn die Maschine!?‹ rief er, plötzlich abbrechend. Diese schien ins Stocken geraten zu sein, und besorgt eilte er auf sie zu. Ich winkte ihm mit der Hand zum Abschied und ging.

Seine Worte hatten in mir einen Sturm heraufbeschworen, der alles gewaltsam Unterdrückte und vergessen Schlummernde wach rüttelte. Neuerdings tobte mein Blut und erzeugte die tollsten, ausschweifendsten Gedanken. Aber es gelang mir doch bald, wieder über mich selbst Herr zu werden – und um so mehr zu bleiben, als ich ja Maruschka nicht mehr sah. Dem Walde blieb sie fern, und ich selbst, um nicht an ihrem Heim vorüberkommen zu müssen, bequemte mich stets zu einem längeren Umweg durch den oberen Teil des Ortes. In der Eile hatte ich einmal den früher gewohnten Pfad eingeschlagen, und da stand sie gerade auf der Brücke. Sie hielt sich tief über das[143] Geländer gebeugt und blickte in das Wasser hinunter. Vielleicht hatte sie mich kommen sehen und sich infolgedessen abgewendet; mir aber fiel auf, daß sie besser und sorgfältiger als sonst gekleidet erschien, und zwar in helle Farben; um den bräunlichen Hals trug sie eine dreifache Schnur bunter Glasperlen. Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie zu dem allen gekommen sein möchte.

So vergingen mehrere Wochen, und die Jagdzeit rückte heran. Die Herrschaft war inzwischen vollzählig eingetroffen; auch zahlreiche Gäste erschienen. Da gab es denn gleich zum Anfang ein lustiges Geknalle auf den Stoppelfeldern, das den Hühnern und Hasen galt; nunmehr aber sollte im Walde der erste Trieb auf Rehe stattfinden. Ich mußte mich also tags vorher zu dem Heger hinaufbegeben, um mit ihm das Nötige zu verabreden, fand ihn aber nicht zu Haufe. Sein junges Weib – er hatte, bereits ziemlich hoch betagt, eine zweite Ehe geschlossen – säugte eben auf der Schwelle ihr Kind und meinte, der Mann müsse noch in der Nähe sein, denn er wäre erst vor kurzem weggegangen. Sie bezeichnete mir die Richtung, die er mutmaßlich eingeschlagen, und so betrat ich den angegebenen Pfad, der in das ernste Düster hoher Tannen hineinführte. Eine Zeitlang blieb er eben, dann hob er sich, um plötzlich in eine muldenförmige Vertiefung abzufallen, die, von jungen Lärchen- und Fichtenschößlingen bestanden, im vollen Lichte der klaren Herbstsonne lag. Ich hielt einen Augenblick still, um zu sehen, ob sich nicht der Heger dort unten befinde – da gewahrte ich ein zärtliches Pärchen, das in trauter Umschlingung zwischen dem niederen Buschwerk ruhte. Die Überraschten – denn auch sie erblickten mich jetzt – fuhren auseinander und verbargen, indem sie sich rasch umwälzten, instinktmäßig die Gesichter im Grase. Aber ich hatte sie bereits erkannt: es waren Maruschka – und der Sohn des Bürgermeisters, ein bartloser, noch nicht zwanzigjähriger Bursche, der eigentlich hübsch zu nennen gewesen wäre, wenn nicht ein widerlicher[144] Zug von Geistesschwäche und kindischer Weichheit sein Antlitz entstellt hätte.

Ich kehrte natürlich sofort um und schritt den Pfad wieder zurück. Aber es dauerte nicht lange, so kam mir jemand eilig nachgekeucht. Es war der Junge, ohne Kopfbedeckung, den Rock nur so um die Schultern geworfen. ›Herr Adjunkt! Herr Adjunkt!‹ rief er noch aus der Entfernung mit flehender Stimme.

›Was soll's?‹ fragte ich, indem ich anhielt.

›Ach, Herr Adjunkt,‹ stammelte er, sich mühsam des ungewohnten deutschen Idioms bedienend, ›verraten Sie nichts! Sagen Sie niemandem, daß Sie mich hier oben mit der – mit der Maruschka gesehen haben.‹

›Was kümmert das mich? Bin ich ein altes Weib?‹ versetzte ich barsch in seiner Muttersprache.

›Ach, es wäre schrecklich, wenn man's erführe‹, fuhr er weinerlich fort. ›Mein Vater – und auch die Mutter wäre – –‹ Er machte Gebärden des Außersichseins.

›Das glaub' ich gern‹, bekräftigte ich. ›Aber kommt ihr denn oft hier oben zusammen?‹ fuhr ich unwillkürlich fort und schämte mich vor mir selbst, daß ich bei dieser Frage ein zuckendes Weh am Herzen verspürte.

›I freilich‹, grinste der Bursche, und sein Mund zog sich dabei bis zu den Ohren. ›Alle Tage.‹

›An derselben Stelle?‹

›Einmal da, einmal dort.‹

›Und wie könnt ihr dann glauben, daß euch niemand gewahr werden wird?‹

›O, da herauf kommt ja kein Mensch. Höchstens Leute aus dem fürstlichen Revier herüber, und die kennen uns nicht.‹

›Aber der Heger? Der müßte euch doch schon getroffen haben?‹

›O, der Pan Heger,‹ lachte der Junge wieder, ›der tut uns nichts. Der hält den Mund. Dem hab' ich –‹ er machte eine bezeichnende Pantomime, daß er ihm Geld in die Hand gedrückt.[145]

Und das bestärkte mich wieder in der üblen Meinung, die ich, sowie der Förster, von dem Manne hatte. Im Dienste zwar erschien er sehr brauchbar; er besaß Umsicht, Mut und Energie, seine sonstigen Eigenschaften aber flößten kein Zutrauen ein. Er trank gern und hatte schwere Familiensorgen auf dem Halse, da ihm noch drei Kinder aus erster Ehe anhingen. Niemals kam er mit seinem Gehalt aus, und der Graf, bei dem er eine Zeitlang in Privatdiensten gestanden und welcher für ihn eine besondere Vorliebe zeigte, mußte ihn fortwährend unterstützen. Ich ärgerte mich.

›Auch Ihnen werd' ich mich schon dankbar erweisen‹, fuhr der Bursche mit unterwürfiger Zutraulichkeit fort.

›Was untersteht Ihr Euch!‹ brauste ich auf. ›Ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Was mich betrifft, könnt Ihr also vollständig beruhigt sein. Ich sag' Euch das, damit, wenn die Sache heute oder morgen doch ruchbar wird, es nicht etwa heiße, ich hätte sie zutage gebracht‹. Damit ließ ich ihn stehen.

Den Heger traf ich nunmehr zu Hause. Es kam mich an, ihn zur Rede zu stellen; aber die ganze Sache war mir so widerlich, daß ich sie nicht noch einmal berühren wollte. Ich erteilte also bloß meine Befehle für die Jagd und ging dann meiner Wege.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 139-146.
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