Die ameis und der grill

[95] In dem süßen ton Harders.


13. septemb. 1536.


1.

Durch Esopum ist uns beschriben,

wie ein ameis zu kalter winterzeit

ir koren trucknen welt am luft

und set es ausgebreit.[95]

Ein grill durch hunger wurt getriben,

bat die ameis, zu teilen mit sein speis,

das er im winter nit verdürb.

do sprach die ameis weis:

»Was hast tan in den sumerlichen tagen,

das du dir nicht hast koren eingetragen?«

der grill wart wider sagen:

»den sumer lang ich frolich war und sung,

und durch die zeun und grünen büsch

ich hin und wider sprung.«


2.

»Hast im sumer gsungen und gsprungen«,

sprach die ameis, »so sing im winter auch;

die speis hab ich getragen ein

für mich, das ist mein brauch.«

Bei der ameis verstet ein jungen

man, arbeitsam, emsig mit hohem fleiß,

der sein narung zusamen helt

und spart zimlicher weis,

Auf das, wan in das alter nun begreife,

das in sein har felt der kalt winterreife

und im sein kraft entichleife

und im get an seinem gewinnet ab,

das er an vor erspartem gut

ein winterzerung hab.


3.

Zum andren verstet bei dem grillen

ein jungen man, nachleßig, trag und faul;

was im gewinnen beide hent,

vernascht das einig maul.

Verzert sein jung tag in mutwillen,

in müßiggang, spil und bulerei arg;

wer nicht wie er sein gut verpraßt,

heißt er filzig und karg.

Tut er in jugent also jubilieren,

im alter tut in nach der sunnen frieren,

so tut in erst vexieren[96]

die streng armut mit mangel und gebruch,

so er muß in dem alter erst

meen am hungertuch.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 95-97.
Lizenz:
Kategorien: