Die keiserin mit dem löwen

[243] Im schatzton Hans Vogels.


20. oct. 1547.


1.

Filius macht zu Rom ein bilt,

steinen, geleich eim löwen wilt,

mit aufgespertem rachen;

das war gemacht mit schwarzer kunst,

wen man des ebruchs züge, sunst

wer sich wolt ledig machen,

tet das mit solchen sachen

Und stieß ein hant dem bild in schlunt,

schwure ein harten eid zur stunt;

het er dan recht geschworen,

so zug er wider raus sein hant,

het er aber nit recht im lant,

so wurd im sein hand voren

abbißen und verloren.

Keiser Julius het ein frauen,

Pompeia; tet ir nit trauen:

ein ritter Clodium,

den forcht er ser, der het sie lieb,

drum er das weib zu schweren trieb,

ir unschuld zu beweren;

die frau mit listen das annum,

sam tet sie es fast geren.
[244]

2.

Als nun der bestimte tag kom,

samlet sich alles volk zu Rom,

diser gschicht zu zuschauen;

um das bilt war ein groß gedreng,

die keiserin mit großem preng

mit frauen und junkfrauen

trat hin auf gut vertrauen.

Clodius beleit sie in dem leit,

unerkant in eins narren kleit

heftig durchs volk hin drange

und die keiserin mit gewalt

umfing mit beiden armen balt

und küsset sie mit zwange,

balt wider darvon sprange

Und im augenblick wart verloren.

die frau war sam entrüst in zoren,

iedoch sie in wol kent,

sonst west niemant nit, wer er war.

die frau trat zu dem bilde dar,

der keiser tet da stane;

dem bilt legt sie ins maul die hent,

fing darnach also ane:


3.

»Zu erretten mein weiblich er

für alle menner ich heut schwer:

keiner mein gwaltig wure,

ausgenommen mein herr und man

und auch der schantlich narr voran,

der mich gwaltig anfure!«

darauf sie den eid schwure,

Also hielt sie die hent darin.

durch ire arglistige sin

entging dem ungelücke,

sie het geschworen nit unrecht.

darmit nam sie disem bilt schlecht[245]

die kraft, dan durch ir tücke

zersprang es in zwei stücke –

Tut Gesta Romanorum sagen.

wer hie auch ein solch bild aufschlagen

in der stat am mark heut,

das der ebrecher hent abbiß,

der teufel nach manchen betrög;

es würt bei man und frauen

noch geben vil hantlose leut,

ich dörft im selb nit trauen.

Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Erster Theil: Geistliche und weltliche Lieder, Leipzig 1870, S. 243-246.
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