Fabel: Der vogel Cassita mit sein jungen

[205] Doctor Sebastianus Brant

der macht ein fabel uns bekant

vom vogel Cassita mit namen;

der nistet in des treides samen,

darin junge aufziehen tet,

sein narung von der früchte het.

als zeit der ernte gieng herein,

und sich ferbet das treit gemein,

wolt diser vogel obgemelt

hinaus fliegen in weites felt

und ließ die jungen in dem nest

und befalch in aufs aller best,

aufzumerken an diser stet,

was da würt ghandelt und geret

dieweil biß das er wider kem.

also schiet er von in. nach dem[205]

kam der bauer mit seinem son

und sprach: wir müßen schneiden lon,

das korn ist reif in beten allen;

sonst würt es zu dürr und ausfallen.

ge hin und unsern nachbaurn sag,

das sie kommen morgen vor tag

und uns einschneiden unser treid.

nach dem abschiden sie all beid.

des warn die jungen vögl forchtsam.

nach dem die alt geflogen kam,

die jungen sagten böse mer,

wie beim acker gewesen wer

der baur, seim son befolhen het,

das er sein nachbaurn brufen tet

auf morgen, abzuschneidn sein korn:

des sein wir hart bekümmert worn.

die alt sprach: lieben, förcht euch nicht,

das schneidn auf morgen nit geschicht.

des andern tages gleicher weis

flog sie aus, zu samlen die speis.

der baur mit seim son wider kam

und sprach: wie gar mit schand und scham

haben mich mein nachbaurn verlaßen,

den ich vil guts tet übermaßen!

drumb ge zu den blutfreunden mein,

die in dem nechsten dorfe sein,

sag zu in: komt auf morgen fru,

das man das korn einernten tu,

wan es ist zeitig überaus.

nach dem giengen sie beid zu haus.

die alt die kam geflogen wider

und ließ sich zu den jungen nider;

die sagten, was befolhen war

vom bauren seiner blutfreunt schar.

die mutter sprach: seit auch on sorgen,

die freunt kommen auch nit auf morgen,

das korn ein zu schneiden umbsunst,

wan schmal und ring ist lieb und gunst[206]

bei blutfreunden, drumb seit zu ru.

nach dem des andern tages fru,

als die alt war ausfliegen nun,

kam der bauer mit seinem sun.

als er nun sach und het vernommen,

das seiner freunt war keiner kommen,

sprach: got gsegn euch freunt und nachbauren!

nu wil ich nit mer auf sie lauren,

weil mir das von in ist geschehen,

het beßers mich zu in versehen.

drumb bring du morgn zwo sichel her,

mir eine und dir die ander,

so wöll wir selbst schneiden das korn;

fremd hilf ist ungwiß und verlorn.

nach dem die alt hört an dem ort

von den jungen des bauren wort,

wie er seim sun befolhen het,

da sagt Cassita an der stet:

nun ist es warhaft große zeit,

mit unsrem nest zu fliehen weit;

weil der baur und sein sun beidsant

selber wöllen anlegen hant,

so wirt die sach gwiß gen von stat,

die sich vor lang verzogen hat

mit den blutfreunden und gesipten,

nachbaurn, verwanten und gelibten,

von welchen alln komt wenig gutz,

wo sie darbei nicht spüren nutz.

nach dem der vogel Cassita

nam sein nest, fürt es anders wa

mit seinen jungen, das sie eben

forthin möchten frei sicher leben.

des nechsten tages kame mit

seim sun der baur, sein ernt einschnit.


Der beschluß

Die fabel zeiget uns hie an,

das ganz fürsichtig sei ein man,[207]

sein eigne sach selbert ausricht

und sich genzlich verlaße nicht

auf sein nachbauren und verwanten,

auf sein gsellen und wolbekanten,

auch nit auf sein angboren freunt,

die im mit sipschaft sint verzeunt;

der wort sint wol gut schmeichelhaft,

iedoch ganz on leben und kraft;

balt die darvon haben kein nutz,

vergeßen vor empfangen gutz,

ziehen hant ab, laßen den waten

in allm unglück, wie von den taten

saget das alt sprichwort: in not

gen der freunt zweinzig auf ein lot.

guter gselln und nachbaurn allein

gen wol achtzig auf ein quintlein.

derhalb ein man wol für sich sech;

wil er, das sein ding recht geschech,

so greif ers an, vollent selbst das

und sich auf keinen freunt verlas,

wil er, das sich aufmer und wachs

sein er und gut, wünscht im Hans Sachs.


Anno salutis 1562., am 2. tag Decembris.


Quelle:
Hans Sachs: Dichtungen. Zweiter Theil: Spruchgedichte, Leipzig 1885, S. 205-208.
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