4. Elegie an mein Vaterland

[256] Paris 1785.


Über trennende Thäler und Hügel und flutende Ströme

Leite mich, wehendes Flugs, hohe Begeisterung hin!

Wonne! Dort hebt sich die Kette der eisbepanzerten Alpen!

Meine Locken umweht reinere, himmlische Luft.

Unter mir spiegelt sich Zürich in bläulich versilberten Wassern,

Ihre Mauern bespült plätschernd die Wallung des Sees.

Kähne, mit schneidendem Ruder, durchgleiten die schimmernde Fläche,

Von des Traubengestads schrägen Geländern umragt.

Weiter schwebet mein Geist! Schon dämmert in schwindlichter Tiefe,

Zwischen Felsen gepreßt, Wallenstadts grünlicher See.[256]

Eschen und bräunliche Tannen umdunkeln sein einsames Ufer,

Und im öden Geklüft bauet der Reiger sein Nest.

Schneller wehet mein Flug! Dort schimmern die rhätischen Alpen,

Und wie durch purpurnen Flor leuchtet ihr ewiges Eis.

Vaterland, sei mir gegrüßt! Der hehren Scenen so manche

Steigt in der großen Natur schrecklicher Schönheit empor;

Ragende Felsenzinken mit wolkenumlagerter Spitze,

Welche kein Jäger erklomm, welche kein Adler erflog;

Blendender Gletscher starre, kristallene Wogen mit scharfen,

Eisigen Klippen bepflanzt, wo, durch umnebelte Luft,

Schneidenden Zuges, die Gähe hinunter die wälzende Lauwe

Rollet den frostigen Tod; wo im Wirbel des Nords

Und im krachenden Donner der tiefaufberstenden Spalten,

Kaltes Entsetzen und Graun lauschende Wandrer ergreift;

Dort die Hirtenthale, von silbernen Bächlein bewässert,

Und vom Schellengeläut' weidender Kühe durchtönt;

Äcker, wo stachlichte Gersten bei bebendem Roggen dahin wogt,

Lichter Haber begrenzt bräunliches Furchengestreif.

Welch ein frohes Gemisch! Es sprießen die herrlichen Bilder

Zahllos, wie Blumen im Lenz, vor der Erinnerung Hauch.

Doch, mich weckt das Donnergetöse der spritzenden Räder,

Und des raschen Gespanns dumpfig erklappernder Huf,

Der geschwungenen Geißel Knall, des treibenden Kärrners

Drohender Fluch, und des Markts heiseres Krämergeschrei.

Ha! Mich umschlingen weit Luteziens kreuzende Gassen;

Mancher Zauberpalast, voll des Goldes und Grams,

Hebt die türmenden Giebel, von stockenden Dünsten umbrütet,

Welche, mit stumpferem Strahl mühsam die Sonne durchwühlt.

Lebet nun wohl, ihr Thäler der Heimat! ihr heiligen Alpen!

Fernher tönt mein Gesang Segen und Frieden euch zu.

Heil dir und dauernde Freiheit, du Land der Einfalt und Treue!

Deiner Befreier Geist ruh' auf dir, glückliches Volk!

Bleib durch Genügsamkeit reich und groß durch Strenge der Sitten;

Rauh sei, wie Gletscher, dein Mut; kalt, wenn Gefahr dich umblitzt;

Fest, wie Felsengebirge, und stark, wie der donnernde Rheinsturz;

Würdig deiner Natur, würdig der Väter, und frei!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 256-257.
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