53. Gesang an die Harmonie

[320] Schöpferin beseelter Töne,

Nachklang, dem Olymp enthallt!

Holde, körperlose Schöne,

Sanfte, geistige Gewalt,

Die das Herz der Erdensöhne

Kühn erhebt und mild umwallt!

Die in innrer Stürme Drange

Labt mit stillender Magie,

Komm mit deinem Sühngesange,

Himmelstochter, Harmonie!


Seufzer, die das Herz erstickte,

Das, mißkannt, sich endlich schloß –

Thränen, die das Aug' zerdrückte,

Das einst viel' umsonst vergoß,

Dankt dir wieder der Entzückte,

Den dein Labequell umfloß.

Der Empfindung zarte Blume,

Die manch frost'ger Blick versengt,

Blüht erquickt im Heiligtume

Einer Brust, die du getränkt.
[320]

Des Vergangnen Traumgebilde,

Amors Morgenphantasien,

Heißt dein Ruf, so still wie milde

Mondesschatten, uns umziehn;

Auf des Lebens Herbstgefilde

Längst verwelkte Veilchen blühn.

Süßer Täuschung Zauberblüte,

Die Erfahrung knickt und rafft,

Weckt im ödesten Gemüte

Deines Wohllauts Schöpfungskraft.


Holder, nun ein süßes Wähnen,

Kehrt das Bild verfloßner Zeit;

Zarter strebt der Liebe Sehnen,

Milder glüht die Innigkeit,

Wenn dein Chor den Trauerscenen

Höhern Trost und Anmut leiht –

Giebt, wo Worte nichts vermögen,

Labsal dem zerstörten Geist;

Der Ergebung stillen Segen,

Wo die Thrän' erschöpfend fleußt


Hefte auf die lichtern Stellen

Unsrer Bahn der Schwermut Blick,

Trag den Geist auf Wohllautswellen

In ein Friedensland zurück;

Solch ein Leben zu erhellen

Braucht man Täuschung und Musik!

Wo der Sturm des Zeitenganges

Meist der Bessern Plan zerreißt,

Träufl' im Balsam des Gesanges

Hoffnung in der Edeln Geist.


Komm, Momente zu verschönen

Dem, der nicht der Zukunft traut;

Schleuß den Blick mit Schlummertönen,

Der zu starr ins Dunkel schaut;

Wie den Säugling beim Entwöhnen

Eines Wiegenliedes Laut,[321]

Lull auch uns in goldne Träume

Einer bessern innern Welt,

Bis ein sanftres Licht die Räume

Unsers Kerkers still erhellt.


Engel! den zum Seelenkranken

Sanftes Mitleid niederträgt;

Der erquickende Gedanken

In der Töne Hülle legt;

Lindernd, statt der Dornenranken,

Seinen Fittig um ihn schlägt:

Dem kein Erdentrost geblieben,

Seiner stummen Schwermut treu,

Lehr ihn weinen, lehr ihn lieben,

Und sein Leben blüht ihm neu.


Gabe, Sterblichen verliehen,

Zart Gefühltes, scheu verhehlt,

Zu vertraun an Melodieen,

Süße Macht, die nie verfehlt

Seel' an Seele hinzuziehen! –

Was beseligt, was uns quält,

Was mit Worten auszudrücken

Keiner Sprache Kraft gelang:

Sehnsucht, Schauer und Entzücken

Zu ergießen im Gesang.


Stimm' aus jenen lichtern Sphären,

Sprach' aus Psyches Vaterland,

Mit des Heimelns süßen Zähren

Hier im fremden Thal erkannt –

Ach! sie fühlt noch ihr Begehren,

Höhern Zonen zugewandt;

Kennt die Sprache mehr als Worte

Und vernimmt der Seelen Ton;

Wähnt sich an des Himmels Pforte,

Der Verbannung Kluft entflohn.


Tön' in leisen Sterbechören

Durch des Todes Nacht uns vor![322]

Bei des äußern Sinns Zerstören

Weile in des Geistes Ohr!

Die der Erde nicht gehören,

Heb mit Schwanensang empor!

Löse sanft des Lebens Bande,

Mildre Kampf und Agonie,

Und empfang im Seelenlande

Uns, o Seraph-Harmonie!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 320-323.
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