8. Das Abendrot

[261] 1784.


Wie lieblich, wenn dein roter Schein

Den stillen See bemalt,

Und in den taubesprengten Hain

Durch Blütenzweige strahlt;

Auf goldner Wogenflut des Korns

Leicht hin und wieder schlüpft,

Und funkelnd auf des Wiesenborns

Umschäumtem Silber hüpft!


Wie lieblich, wenn er mit dem Bach

Die Blumenau durchspielt,

Und sich durch das Holunderdach

In meine Laube stiehlt;

Wenn wolligkrauser Wölkchen Heer

Sein Purpur überzieht

Und, rot vom Wiederschein, das Meer

Wie Lavaströme glüht!


O Pracht, wenn du der Berge Blau

Mit goldnem Saume zierst,

Bevor du dich ins matte Grau

Der Dämmerung verlierst!

Noch wunderschöner strömt die Flut

Von deinem Rosenlicht

Dem Mädchen unterm Halmenhut

Ins blühende Gesicht.


Wenn bei der Heidelerchen Sang

Dein letzter Strahl erstirbt,

Im Totenacker, leis' und bang',

Noch die Cikade zirpt;

Dann lächelt die Vergangenheit

Durch der Erinn'rung Flor,

In mildem Lichte steigt der Zeit

Verblichnes Bild empor.
[262]

Aus deines Kranzes Rosen taut

Wehmütiges Gefühl;

Im Spiegel stiller Ahndung schaut

Mein Geist der Wallfahrt Ziel;

Vom Hauch der Hoffnung kühl umweht,

Vergißt er Gram und Schmerz;

Die Erde rings um ihn vergeht,

Er schwingt sich himmelwärts.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 41, Stuttgart [o.J.], S. 261-263.
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Anthologie aus den Gedichten von Matthisson und Salis