II, 4.

[40] Doktor Ronober kommt des Wegs.


RONOBER.

Sieh' Nichte! Geht man hier spazieren!

Es ist doch heut' kein Feiertag.

Ein fremdes Kind noch auszuführen,

Das war sonst nicht nach deinem Schlag.

FAUSTINE.

Es ist das meine worden, Oheim!

Mein Haus war nur ein leer Gefild'.

Jetzt ist es mir ein wahrhaft Frohheim.

Mein Menschenhunger ist gestillt.

RONOBER.

Das Studium läßt zur Kinderpflege

Dir Zeit noch, läßt das Herz dir frei?

Ich glaubte, daß in dem Gehege

Kein Raum für Mutterliebe sei.

FAUSTINE.

Die Wissenschaft ist weggekehret

Aus meinem Hause, meinem Kopf.

Das A B C wird nur gelehret;

Ich kämm' die Haare, flecht' den Zopf.[40]

RONOBER.

Wie das gekommen, mußt du mir erzählen

Ein andermal; jetzt mangelt mir's an Zeit.

Als Hausarzt will ich dir mich noch empfehlen.

Wo Kinder sind, ist Krankheit auch nicht weit.

FAUSTINE.

Die Medizin ward just euch zum Geschäfte,

Mit dem man jetzt gar in der Zeitung prangt.

Ja, ja, man muß verwerthen seine Kräfte

Und sich erbieten, wird man nicht verlangt.

Ihr wißt, wie ich vom Doktorieren denke:

Ihr kennt von jeder Sehne wohl den Sitz;

Doch fühl' ich Rheumatismus im Gelenke,

So ist es aus mit Hülfe und mit Witz.

RONOBER.

Gemach! Wir heilen doch zerbroch'ne Knochen,

Und manche Wunde narben fein wir bei.

FAUSTINE.

Doch wirksam gegen inn're Krankheit Trank zu kochen,

Dazu ist noch der Herd nicht frei.

Ihr leistet viel der Wissenschaft zur Ehre,

Von jedem Nerv kennt ihr die Leitungsbahn;

Allein die Kunst, wie er, im Fall, zu heilen wäre,

Die blieb bis jetzt ein frommer Wahn.

RONOBER.

Die Wahrheit sprechen Kinder sowie Narren.

Hier steh'n sie beide; und ich geh' beschämt.

Doch hören sie im Hals ein Hüstlein knarren,

So wird sich schnell zu uns'rer Hülf' bequemt.[41]

FAUSTINE.

Setzt je der Zufall Besseres an eu're Stelle,

Glaubt, so verschwindet ihr vom Schauplatz schnelle.

RONOBER.

So geh' ich zu dem Kranken jetzt bedächtig.

Stirbt er inzwischen, war ich sein nicht mächtig.

Doch deine Stiche waren niederträchtig.


Ronober ab.


Quelle:
Schäfer, Wilhelm: Faustine, der weibliche Faust. Tragödie in sechs Aufzügen nebst einem Vorspiel und Prolog, Zürich 1898, S. 40-42.
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