II, 5.

[42] FAUSTINE.

Nun freilich kann der Mensch nicht tiefer blicken,

Als sein beschränktes Auge reicht.

Was ich zum Vorwurf euch in vielen Stücken

Gemacht, es trifft Natur noch mehr als euch vielleicht,

Die ihren Heilungsschatz der Aerzte Kunst versagt

Und sich um Lebensrettung rezeptierend wenig plagt.

So komm' ich wieder auf die wunde Stelle:

Wir fahren scheinbar auf dem hohen Meer;

Doch, wie des Schiffleins Wimpel drauf auch schwelle,

Nur in der Pfütze treiben wir einher.

Wir proben aus, was sich in Dunkel hüllt,

Und wissen nicht, was sich zur Stund' erfüllt.

Es sieht auf seiner Uhr, wieviel die Zeit, ein jeder;

Doch diese wird dadurch nicht früher und nicht später.


Setzt sich mit dem Kinde auf eine Gartenbank.


So hab' ich oft nach einem festen Punkt

Gesucht in diesem Wechsel der Verrichtung.

Wie stolz auch jedes Lebewesen prunkt,

In seinem Dasein lieget die Vernichtung.

Ein schwanker Grund behindert jedem Schritt

Den sichern Auftritt und dem Aug' die Schärfe;

Des Menschen Leidenschaften wirken mit[42]

Hierbei, auf daß in's Sein sich Schatten werfe.

Nichts zeigt sich dauernd in der Erdenwende,

Als der Natur beständige Vergeudung.

Erst da verlaufen Wandel sich und Ende,

Wo Raum und Zeit verlieren die Bedeutung.

Und da beginnet Gott, der schrankenlos

Das Weltall füllt mit seiner Schaffenswaltung.

Ein Korn ist ihm ein jedes Wesen bloß

Zu der Entwicklung, nicht zu der Erhaltung.

Durch seine Blüthe hat's dem Zweck genügt

Im Schöpfungsraume unter tausend Dingen.

Es streute Samen aus; und umgepflügt

Wird nun sein Boden, neue Frucht zu bringen.

Die Summe bleibt sich gleich im Weltbestand;

Die Posten wechseln unaufhaltsam weiter.

Sie treten ein und aus in dem Verband

Und steigen auf und ab die Stufenleiter.

Im Zirkel dreh'n sie sich zu buntem Tanz

Und tauschen höchstens drin ihr Gegenüber.

Dieweil der eine strahlt in höchstem Glanz,

Wird schon des andern Färbung trüb und trüber.

Wohl stieg der Werth im geistigen Gehalt,

Seitdem das erste Paar sich fand im Eden.

Doch sank dafür die leibliche Gewalt:

Empfindlichkeit ergriff der Nerven Fäden. –

Unendlichkeit! so heißt die freie Sicht,

In der sich alles zeitigt, theilt und bindet,

Die alles herbergt, die die Schranken bricht,

In deren Reich sich alles wiederfindet.

Von ihr sind wir ein Theil, der schlecht'ste nicht:

Ein Stückchen Ewigkeit, moralisch, leiblich.

Das Auge kündet es, das göttlich spricht,

Der Seele voll und lockend unbeschreiblich.

Drum lassen wir's damit genug uns sein

Und diese Erd' geschaffen uns zur Lust sein.

Hüllt einst den welken Körper treu sie ein,

So bleibe doch lebendig das Bewußtsein. –


Da kommt der Mann, der lustig ward geschildert.

Ich dacht' mir das Genie ein wenig mehr verwildert.[43]


Quelle:
Schäfer, Wilhelm: Faustine, der weibliche Faust. Tragödie in sechs Aufzügen nebst einem Vorspiel und Prolog, Zürich 1898, S. 42-44.
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