V, 5.

[95] Musarion tritt auf.


MUSARION.

Nun endlich denn bei dir, du starker Schutz,

So zierlich dich auch die Natur geschaffen!

Hier biet' ich allen Höllenmächten Trutz:

In diesem reinen Raum versagen ihre Waffen.[95]

Hier sieg' ich über jegliches Gelüste,

Das meinen Willen brachte in Gefahr.

Hier lüg' ich nicht, wenn ich mich brüste:

Dein, Innocentia, bin ich ganz und gar!


Beide umarmen sich.


INNOCENTIA.

Was sprichst du Lieber da von Kämpfen?

Wer droht dir mit Verleitung und Gericht?

Vertrau' dich mir; ich will das Uebel dämpfen! –

So aufgereget sah ich dich noch nicht.

Schmieg' furchtlos dich an meine Seite,

Damit ich Labung dir bereite!

MUSARION.

Es ging vorbei. Nur Fieberfantasieen

Umlagerten versengend mir den lockern Sinn.

Ich sehe dich, und die erbosten fliehen.

Da, nimm mich völlig hin!

INNOCENTIA.

Seltsamer Mensch, den ich zu kennen wähnte,

Wie neu befremdlich heut' erscheinst du mir!

Bist wirklich du mir noch der Heißersehnte?

Was ändert eben rasch sich zwischen mir und dir?

MUSARION.

Ich suche mit Gewalt, der Heitere zu bleiben,

Der wie der frische Morgenwind vor dir erschien.

Der Augenblick war uns ein fröhlich Treiben;

Kein Vor- und Rückschau'n trübte ihn.

INNOCENTIA.

Mich faßt ein freudertödtend Bangen,

Geheime Zweifel steigen in mir auf.[96]

Gestört Empfinden, ja ein fremd Verlangen,

Sie treten trennend zwischen uns herauf.

MUSARION.

Laß es bei dem Gewohnten! Greif' mir nimmer

Zu tief in den verhüllten Busen!

Ich bleibe wie vorher der Freund der Musen,

Für dich doch der Geliebte immer.

INNOCENTIA.

Wer bist du eigentlich,

Der sich in meines Herzens Tiefen schlich,

Gewaltig regte seine Saiten an,

Der mir unendlich wohlgethan?

Der mir nun plötzlich fremd erscheint,

Als sei er nie gewesen mir vereint?

Verloren mir?! Die Schauerahnung drängt sich auf.

Und meine Seele weint.

MUSARION.

So schlimm steht's nicht, wie deine Angst es meint.

Doch nicht beschwör' die Geisterschaar herauf,

Die jedem Glücke feindlich harrt,

Die dessen regen Puls erstarrt!

Ich bin der Mann der Gegenwart!

INNOCENTIA.

Allein die Zukunft! Sie läßt mich erbeben.

Sie wird das Jetzt uns aus den Angeln heben.

Sie herrscht schon in der folgenden Minute

Und ruft mir zu, daß ich mich spute

Mit dir zur Flucht. Ich hör' beklommen

Die Katastrophe näherkommen.[97]


Quelle:
Schäfer, Wilhelm: Faustine, der weibliche Faust. Tragödie in sechs Aufzügen nebst einem Vorspiel und Prolog, Zürich 1898, S. 95-98.
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