1069. Die verzauberte Jungfrau auf dem Waldstein.

[122] Mündlich.


Der Schäfer eines Edelherrn zu Stockenroth hütete Tag für Tag im Walde droben. So kam er mit seiner Heerde auch immer an die Felsen des Waldsteins. Da ward er einmal darauf aufmerksam, wie sein Hund regelmäßig eine Zeitlang verschwand, dann aber fröhlich und wohlgenährt zurückkehrte. Das setzte ihn baß in Verwunderung; – welche verborgene Hand reichte dem Thiere das Futter? Wie sich nun der Hund wieder entfernte, ging er ihm nach; da kam er an eine heimliche Thüre in dem Felsen, welche er noch nie gesehen hatte, und als er furchtlos die Schwelle überschritt – siehe, da trat ihm eine weißgekleidete Jungfrau entgegen, die bat ihn inständig, er solle sie küssen, auf daß sie erlöst werden möchte. Herzhaft that es der Schäfer, da ward die schöne Jungfrau froh, zeigte ihm einen großen Kasten, darauf ein schwarzer Hund lag und reichte ihm eine Lilie1 mit dem Bedeuten, das sei der Schlüssel zu diesem Kasten, er dürfe nun alle Tage wiederkommen und drei Griffe thun. Das solle der Lohn für seinen Muth sein. Der Schäfer merkte sich dies wohl und kam Tag für Tag mit der Lilie wieder; sowie er in die Höhle trat, sprang der Hund vom Kasten herunter und er that drei Griffe in die herrlichen Schätze. So ward er ein reicher Mann, ohne daß Jemand davon wußte. Als er nun des Reichthums genug hatte, gab er seinen Dienst auf und zog nach Sachsen. Dort erzählte er einstmals von seiner Geschichte auf dem Waldstein, da verschwand auch alsbald der Zauberschlüssel.

1

Nach Andern: eine Johannisblume.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 122-123.
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