1233. Die Nonne zu Ingolstadt.

[241] Mündlich.


Vor Ingolstadt lag ein feindliches Heer und drängte die Veste. Etliche Monate hindurch hatte sich die Besatzung tapfer gehalten, da geschah es durch Unvorsicht oder Feindeshand, daß ein Brand ausbrach. Furchtbar schnell griffen die Flammen um sich, weil zu allem Unglück ein gewaltiger Sturm tobte. Auch ein Kloster frommer Jungfrauen war von dem Brande ergriffen. Mitten in der Verwirrung, dem Geheul des Sturmes und dem Jammer der Glocken eilt eine Klosterfrau in den Garten, wo ein Bild der Muttergottes mit dem Jesuskinde auf dem Arm in einer Nische stand. Da wollte sie auf ihren Knien Gott um Hülfe anrufen, aber welcher Anblick überraschte sie! Ein todtes Weib lag auf dem Boden, an deren offener Brust ein Säugling schlummerte. Die Nonne streckt ihre Arme nach dem nackten Wesen aus, kost es und wärmt es an ihrer Brust; aber das Kindlein jammert und sucht nach der nährenden Mutterbrust. Da erfüllt die gottgeweihte Jungfrau unsägliches Mitleiden, sie wirft sich nieder vor dem Bilde der Mutter des Herrn und fleht unter den heißesten Thränen um Hülfe für das arme Würmlein, das sie in den Armen hält. Ihr Gebet ist erhört. Im nämlichen Augenblicke durchströmt sie ein nie gekanntes Muttergefühl; unwillkührlich legt sie den Säugling an ihre Brust, und siehe! o Wunder, das Kindlein wird gelabt und gerettet an dem Busen der keuschen Jungfrau.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 241-242.
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