1282. Die lange Agnes.

[277] Mündlich.


Im Walde zwischen dem Grenzstädtlein Furth und dem Bannmarkte Eschelkam quillt unfern des Fußpfades ein Brünnlein, das bei dem Volke übel berufen ist. Niemand wagt es nach der Vesperglocke ihm nahe zu kommen, denn es treibt dort seit unfürdenklichen Zeiten die lange Agnes ihr Unwesen, und wer immer eine Sünde auf dem Herzen hat, namentlich ungerechtes Gut, über solchen hat das boshafte Gespenst Macht und drangsalirt ihn in empfindlicher Weise. Die Marter besteht aber darin, daß die lange Agnes ihr Opfer in die Fluthen des Brünnleins taucht und ihm dann den Kopf mit Bürste und Stahlkamm zwackt, daß Haut und Haare abgehen möchten. Es wird erzählt, die lange Agnes sei in ihrem Leben ein bitterböses, habgieriges Weib, hochgestreckter, hagerer Gestalt gewesen, und habe sich so ganz und gar in die Sorgen für das Zeitliche versenkt, daß sie sogar den Tag des Herrn nicht heilig gehalten. Oftmals sah man sie an hohen Kirchenfesttagen im Bache stehen und ihre Wäsche schwemmen, und von diesem gottlosen Thun konnte sie weder durch die Ermahnungen ihrer Angehörigen noch durch die Strafreden des Pfarrherrn abgebracht werden. Ihres verstockten Sinnes wegen ward ihr nach dem Tode die Ruhe der Seligen versagt und sie muß bis zum Tage des Gerichtes an jenem Brünnlein umgehen. Man hört das Klopfen ihres Waschbläuels in den Geisterstunden auf eine halbe Meile weit durch den Forst erschallen, begleitet von dem Gekrächze der Nachtvögel.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 277.
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