1284. Der treue Staar.

[278] Mündl. u.n. alten handschriftl. Notizen. – Die Sage bereits zur Kinderschrift verarbeitet.


Von dem Geschlechte der Markgrafen von Cham-Vohburg geht die Sage, daß einmal ein Fräulein des Hauses im zarten Kindesalter durch die Zigeuner geraubt worden sei. Ein Staar, welcher im Schlosse gehalten wurde, flog den Räubern nach und begleitete sie aller Orten hin auf ihren Kreuz- und Querzügen. Wenn sie rasteten, ließ auch er auf einem nahen Baume sich nieder und begann die ihm eingelernten Sprüche herzuplaudern. Die Räuber besorgten nun, durch diesen Vogel verrathen zu werden, und stellten ihm auf alle mögliche Weise nach, ihn zu fangen oder zu tödten; aber das kluge Thier wußte allen Schlingen und Geschossen zu entgehen. Da wurde den Zigeunern ernstlich bang und sie trachteten, sich des gefährlichen Raubes zu entledigen. Zu diesem Zwecke setzten sie das Kind an der Schwelle einer einsamen Herberge im Böhmerwalde aus; der Staar aber schwang sich auf den Giebel des Hauses und sang da mit heller Stimme seine alten Weisen.

Die Wirthin, eine arme aber gutmüthige Frau, nahm sich des Findlings bestens an, und fütterte auch getreulich den Staar, welcher sich von der Kleinen durchaus nicht trennen wollte. Wohl dachte sie, wenn sie das feine und zierlich ausgenähte Hemdlein des Kindes beschaute, daß dieses aus einem vornehmen Hause stammen müsse, aber von dem Raube in der markgräflichen Burg drang keine Kunde in ihre Einöde und so wußte sie auch nicht, woher oder wohin mit dem Mädchen. Dieses war im Laufe der Jahre zur blühenden Jungfrau herangewachsen, als eines Tages ein stattlicher Ritter in der Herberge einsprach, den ein Gewittersturm Obdach zu suchen gezwungen hatte. Und während der Gast am Tische saß, und sich mit einem Krüglein Wein erlabte, hüpfte der Staar hinterm Ofenbrett hervor, flatterte mit seinen Schwingen, als wollte er die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich ziehen und ließ sodann seine Sprüche und Liedlein vernehmen. Dem Ritter war, als hätte er den Vogel vor langer Zeit schon gesehen und gehört, und fragte die Wirthin, woher sie das Thierlein habe. Diese erzählte ihm die Geschichte des Mägdleins, soviel sie davon wußte, und brachte auch das Hemdchen herbei, welches sie bis zur Stunde sorgfältig aufbewahrt hatte. Der Ritter[279] erkannte an der Stickerei mit freudigem Schrecken das Wappen seines Hauses und gebot der Wirthin, ihm augenblicklich die Jungfrau vorzuführen. Diese wurde von der Wiese hereingerufen, wo sie eben Gras mähte, und der Ritter erstaunte nicht wenig über ihre seltene Schöne und Huldgestalt. Er nahm sie bei der Hand und streifte, ihr Erröthen nicht scheuend, mit der Linken das Busentüchlein etwas zurück, und sieh da! in der Gegend der Schulter ward auf der lilienweißen Haut ein Muttermal sichtbar in Form einer Kreuzdornblüthe. Alsbald fiel der Ritter der Jungfrau um den Hals und rief: »Ich bin der Graf zu Vohburg, du bist meine Schwester, welche wir so lange beweint haben; dieses Zeichen gibt dich mir zu erkennen, da unsere Mutter uns oft genug davon gesagt hat.« Wiederum umarmte der Graf das schöne Schwesterlein, als sollte dessen gar kein Ende nehmen. Dann saß er zu Roß und nahm die Jungfrau vor sich in den Sattel. Der Staar aber, als hätte er die Scene des Wiederfindens begriffen, erhob ein freudiges Geschrei und flog an der Seite des glücklichen Paares der Heimath zu. Welcher Jubel sich dort erhoben, als das verlorne Fräulein seinen Einzug hielt, läßt sich schwer beschreiben. Die gräflichen Eltern bereiteten ein großes Freudenmahl, zu welchem alle Verwandte und Dienstleute des Hauses geladen wurden, und der Staar spazierte während der Gasterei auf den Tischen herum, gleichsam als wollte er von allen Anwesenden das ihm gebührende Lob einsammeln.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 278-280.
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