932. Nächtliche Erscheinung zu Speier.

[3] Von WolfgangMüller. Vgl. Sagenb. I., 313.


Wach auf! erklingt's in des Schiffers Traum,

Wach auf, du Wächter am Strome!

Und über ihm rauschet der Lindenbaum,

Und Zwölfe schlägt es vom Dome.

Groß vor ihm steht Einer im dunkeln Gewand,

Der Schiffer bringt ihn hinunter zum Strand,

Halb schlafend, halb wachend, wie trunken.


Und während er träge löset den Kahn,

Beginnt es um ihn zu leben;

Viel riesige hohe Gestalten nah'n,

Er sieht sie nicht schreiten, nur schweben;

Es tönet kein Wort, es rauschet kein Kleid,

Wie Nebel durchzieh'n sie die Dunkelheit:

So steigen sie all in den Nachen.


Er sieht sie mit Staunen, mit Schrecken an,

Stößt schweigend und fürchtend vom Lande,

Kaum braucht er zu rudern, es flieget der Kahn,

Bald sind sie am andern Strande.

»Wir kommen zurück, da findst du den Lohn,«

Gleich Wolken verschwinden im Felde sie schon,

Fern scheinen ihm Waffen zu klirren.


Er aber rudert sinnend zurück

Durch der Nacht ernstfriedliche Feier,

Wo sich die Heimat hebet dem Blick,

Das dunkelthürmige Speier,

Sitzt wach bis zum Morgen am Lindenbaum,

Und war es Wahrheit, und war es ein Traum,

Er hüllet es tief in den Busen.


Und sieh, es ruft ihn die vierte Nacht

Als Wächter wieder zum Strome.

Wohl hält er schlaflos heute die Wacht,

Da schlägt es Zwölfe vom Dome.

»Hol' über!« ruft es vom andern Strand,

»Hol' über!« da stößt er den Kahn vom Land

In stiller, banger Erwartung.
[4]

Und wieder ist es die düstere Schaar,

Die schwebend den Nachen besteiget,

Der Kahn zieht wieder so wunderbar,

Doch jeder der Dunkeln schweiget.

Und als sie gelandet zu Speier am Land,

Gibt Jeder den Lohn ihm behend in die Hand;

Er aber harret und staunet.


Denn unter den Mänteln blinken voll Schein

Viel Schwerter und Panzer und Schilde,

Goldkronen und funkelndes Edelgestein

Und Seiden- und Sammetgebilde;

Dann aber einhüllt sie wieder das Kleid,

Wie Nebel durchfliehn sie die Dunkelheit

Und schwinden am mächtigen Dome.


Doch wachend bleibt er am Lindenbaum

Mit sinnendem, tiefem Gemüthe;

Ja, Wahrheit war es, es war kein Traum,

Als blendend der Morgen erglühte:

Er hält in den Händen das lohnende Geld,

Drauf glühen aus alter Zeit und Welt

Viel stolze Kaiserbilder.


Wohl sah er manchen Tag sie an

Im forschenden, stillen Gedanken,

Da riefen sie drüben um seinen Kahn,

Das waren die flüchtigen Franken.

Geschlagen war die Leipziger Schlacht,

Das Vaterland frei von des Fremdlings Macht;

Der Schiffer verstand die Erscheinung.


»Und löstet ihr, Kaiser, die Grabesnacht

Und die ewigen Todesbande,

Und halft in der wilden, dreitägigen Schlacht

Dem geängsteten Vaterlande,

Steigt oft noch auf und haltet es frei

Von Sünden und Schmach und Tyrannei,

Denn es thut noth des Wachens!«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 3-5.
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