944. Das Fräulein vom Wilenstein.

[18] Mündlich.


Zwei Stunden von Kaiserslautern entfernt liegt das Dorf Trippstadt, in dessen Nachbarschaft am Ausgange des herrlichen Karlsthales sich die Ruinen der Burg Wilenstein erheben, welche ehemals ein Besitzthum der Familie von Flersheim gewesen. Von dieser Burg geht unter den Bewohnern der Gegend die folgende Sage.

Ein stattlicher Jüngling, man wußte nicht von wannen er gekommen, verdingte sich in der Nähe des Wilensteins zu einem Schäfer. Seine Schönheit und edles Wesen brachten ihn bald in das Gerede der Leute, denn er war kein Schäfer oder Knecht vom gewöhnlichen Schlag. Auch das Töchterlein des Ritters von Flersheim vernahm die seltene Kunde. Sie war neugierig, den Hirten kennen zu lernen. Da führte sie der Zufall eines Tages in die Nähe des Jünglings, als dieser in's Gras gestreckt bei seinen Schafen eingeschlafen war. Kaum dachte sie bei sich: »das ist er,« so erwachte der Jüngling. Scheu flüchtete das betroffene Fräulein von dannen, aber das Bild des Schäfers wollte sie nicht mehr verlassen. Noch manchmal traf sie auf ihren Spaziergängen mit dem Jüngling zusammen und redete wohl auch ein freundliches Wort mit ihm. Bald glühten zwei Herzen von einem stillen Feuer, während sich keines dem andern zu vertrauen wagte. Indessen wurden alle ritterlichen Bewerber um die Hand des schönen Fräuleins abgewiesen. Niemand konnte begreifen, warum die Jungfrau den schönsten und tapfersten Männern abhold wäre. Endlich drang der Vater in sie, sich zu entscheiden und einem der edelsten Ritter, welcher um ihre Hand anhielt, das Jawort zu geben. Es war ein harter Kampf. Schwankend doch gehorsam folgte sie. Als sie aber wie gewöhnlich hinausging auf den Söller, nach dem Hirten umzusehen, der alltäglich die Schaafe vor ihren Augen weidete, trieb ein anderer die Heerde. Auf ihre Nachfrage vernahm sie, daß ihn ein stilles Leid unter die Erde gebracht habe. Es war ein Donnerschlag für die Arme. Leichenblaß wankte sie zu einem Klausner im Walde, sich Trost zu erbitten. Auf einem Stege, über welchen sie schreiten wollte, sank sie betäubt in's Wasser. Als der Ritter auf Wilenstein das unglückliche Schicksal seiner Tochter erfuhr, wollte er den im Leben Getrennten wenigstens nach dem[19] Tode ein Denkmal der Erinnerung weihen. So ließ er bei der, eine Stunde von Trippstadt in der Richtung nach Kaiserslautern entfernten Aßbacher Höhe ein Kirchlein erbauen und dahinein die Bildnisse der Liebenden (nach einer Mittheilung nur Flöte und Stab des Hirten) bringen, woselbst sie der Wanderer noch heutzutag sehen soll.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 18-20.
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