958. Kaiser Rudolphs Ritt zum Grabe.

[32] Von J. Kerner. – Vgl. Sagenb. II, 324.


Auf der Burg zu Germersheim,

Stark am Geist, am Leibe schwach,

Sitzt der greise Kaiser Rudolph,

Spielend das gewohnte Schach.


Und er spricht: »Ihr guten Meister!

Aerzte! sagt mir ohne Zagen:

Wann aus dem gebrochnen Leib

Wird der Geist zu Gott getragen?«


Und die Meister sprechen: »Herr,

Wohl noch heut erscheint die Stunde.«

Freundlich lächelnd spricht der Greis:

»Meister! Dank für diese Kunde!


Auf nach Speyer! Auf nach Speyer!

Ruft er, als das Spiel geendet,

Wo so mancher deutsche Held

Liegt begraben, sei's vollendet!


Blast die Hörner! bringt das Roß,

Das mich oft zur Schlacht getragen!«

Zaudernd steh'n die Diener all',

Doch er ruft: »Folgt ohne Zagen!«


Und das Schlachtroß wird gebracht.

»Nicht zum Kampf, zum ew'gen Frieden,«

Spricht er, »trage, treuer Freund,

Jetzt den Herrn, den lebensmüden!«


Weinend steht der Diener Schaar,

Als der Greis auf hohem Rosse,

Rechts und links ein Kapellan,

Zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse.


Traurend neigt des Schlosses Lind'

Vor ihm ihre Aeste nieder,

Vögel, die in ihrer Hut,

Singen wehmuthsvolle Lieder.


Mancher eilt des Wegs daher,

Der gehört die bange Sage,

Sieht des Helden sterbend Bild

Und bricht aus in laute Klage.


Aber nur von Himmelslust

Spricht der Greis mit jenen Zweien,

Lächelnd blickt sein Angesicht,

Als ritt er zur Lust in Maien.


Von dem hohen Dom zu Speyer

Hört man dumpf die Glocken schallen.

Ritter, Bürger, zarte Frau'n,

Weinend ihm entgegenwallen.


In den hohen Kaisersaal

Ist er rasch noch eingetreten;

Sitzend dort auf goldnem Stuhl,

Hört man für das Volk ihn beten.


»Reichet mir den heil'gen Leib!«

Spricht er dann mit bleichem Munde,

Drauf verjüngt sich sein Gesicht,

Um die mitternächt'ge Stunde.


Da auf einmal wird der Saal

Hell von überird'schem Lichte,

Und entschlummert liegt der Held,

Himmelsruh' im Angesichte.


Glocken dürfen's nicht verkünden,

Boten nicht zur Leiche bieten,

Alle Herzen längs des Rheins

Fühlen, daß der Held verschieden.


Nach dem Dome strömt das Volk

Schwarz, unzähligen Gewimmels.

Der empfing des Helden Leib,

Seinen Geist der Dom des Himmels.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 32-33.
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