157. Die Geisterkirche auf dem Ochsenkopf.

[164] Von LudwigBraunfels. – Ausf. Beschr. des Fichtelberges S. 69. Goldfuß u. Bischof a.a.O. I., 302. J.v. Plänckner Piniferus S. 141.


Am Sankt Johannismorgen steigt

Ein Knab' zum Fichtelberge:

Das ist der Tag, der offen zeigt

Den goldnen Schacht der Zwerge;

Und wer da fühlet kecken Muth,

Mag rauben aus der Geister Hut,

Weß' ihm das Herz gelüstet.


Der Knab' erklimmt in Sprung und Lauf

Die steilsten Bergeshänge;

Und wie er hört vom Dorf herauf

Der Glocken Morgenklänge,

Da fällt des Frühroths erster Schein

Wohl auf das kalte Felsgestein

Mit wunderbarem Glänzen.


Und eine Blum' im Goldgewand

Steigt auf am steilsten Orte;

Er pflückt sie; und die Felsenwand

Zeigt plötzlich eine Pforte.

Und von der Blume kaum berührt,

Springt auf das Eisenthor; es führt

Hinein zur Geisterkirche.


Auf Silbersäulen dringt empor

Gewölbe von Rubinen;

Ein Hochaltar steht dort im Chor,

Vom Himmelslicht beschienen.

Aus jeder Nische goldner Glanz!

Von Säul' zu Säulen schwebt ein Kranz

Aus Perlen reich geflochten.


Ein Priester Segensworte spricht

Zum frommen Volksvereine;

Doch sieht der Knab' den Priester nicht,

Und nicht die Kirchgemeine.

Dann hebt sich an ein heil'ger Sang

Mit Glockengruß und Orgelklang,

Und wonnig lauscht der Knabe.


Doch eine leise Stimme ruft:

»Frisch auf, du kühner Knabe,

Eh' dir die Kirche wird zur Gruft,

Nimm von der reichen Habe!

Nimm Gold und Perlen und Gestein

Nimm, weß' begehrt das Herze dein,

Nur eil', und kehre nimmer.«
[164]

Der Knabe hört's, doch geht er nicht:

Was Gold und Steingeflimmer!

Ihm ist so wohl, so klar und licht;

Und scheiden möcht' er nimmer.

Und wieder ruft's: »Geschwind! geschwind!

Du bist verloren, mein armes Kind!«

– Er bleibt, er lauscht dem Sange.


Mit Eins verstummt der Geisterchor;

Und bei dem letzten Halle

Da wird es Nacht; das Eisenthor

Schließt sich mit Donnerschalle.

Da sinkt er hin im goldnen Schacht,

Da ist er in der Zwerge Macht;

Kein Auge sah ihn wieder.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 164-165.
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