302. Die verlornen Heiligenbilder.

[294] Die vor. Schrift S. 19.


Vor dem Hauptthore des Schlosses Johannisberg zu Aschaffenburg stand ursprünglich jenseits des Grabens ein Portal und darauf die steinernen Bildsäulen des heil. Martin, des Patrons des Erzstiftes Mainz, und des heil. Johannes des Täufers in kunstreicher Arbeit. Der Kurfürst Emmerich Joseph ließ vor etwa siebenzig Jahren das Portal der freieren Aussicht wegen abbrechen, die Bildsäulen wurden beseitigt und im Laufe der Zeit hatte man ihrer vergessen.

In einer der schönen Spätsommernächte des Jahres 1811 ging ein alter Fischer aus der Weinschenke heim, in der er täglich seinen Schoppen zu trinken pflegte. Die Weinschenke befand sich in dem Eckhause zwischen der Karlsstraße und dem Viehberge, und der Fischer wohnte in der Fischergasse; er nahm seinen Weg aber nicht den Viehberg hinunter am Maine hin, sondern an dem Bauhofe und Schlosse vorbei durch die neue Anlage. Von dem Bauhofe zieht sich eine Mauer gegen das Schloß und darin ist ein zugemauerter Thorbogen. Als der alte Fischer dahin kam, stand vor dem Thorbogen ein Bischof im vollen Ornate mit Inful und Stab; der erhob die Hand und sprach: »In diesem Gewölbe liegen die Bildsäulen des heil. Martin und des heil. Johannes, die vom Schloßthore abgebrochen worden sind. Sie sollen nicht länger gleich altem Gerümpel im Moder liegen, sondern wieder hervor an's Tageslicht – und du sollst dieses mein Gebot verkünden!« Darauf war er verschwunden.

Des folgenden Morgen überlegte sich der Fischer die Geschichte. Die Nacht war hell gewesen und der Fischer hatte den Bischof deutlich gesehen und seine Worte wohl vernommen, allein die Erscheinung war so schnell vorüber – und gerade an diesem Abende hatte der Fischer mehr als einen Schoppen getrunken: er war darum nicht sicher, ob ihm nicht der Wein einen Streich gespielt, und beschloß, vor der Hand über die Sache zu schweigen. Sie ging ihm indessen den ganzen Tag im Kopf herum und erst am Abende in der lustigen Gesellschaft des bekannten Weinhäuschens vergaß er ihrer.

Zur gewöhnlichen Stunde, es war nicht die früheste, ging er heim. Er dachte an nichts, als an den guten, wohlfeilen Wein, den er getrunken.[295] Der Eilfer war zwar damals noch nicht im Faß, aber der voraussichtlich reiche Herbst zwang zum Fortschaffen der Weinvorräthe. Als der Fischer am Bauhofe vorbei war, blickte er doch scheu nach dem zugemauerten Thorbogen – und der Bischof stand wieder dort und sprach dieselben Worte.

Jetzt konnte der Fischer nicht mehr zweifeln, daß er wirklich eine Erscheinung aus einer andern Welt gesehen. Wäre es nicht späte Nacht gewesen, er hätte gleich die Anzeige gemacht; so mußte er sich schon bis zum andern Tage gedulden. Im Strahle der Morgensonne sehen indessen alle Dinge anders aus, als beim Sternenlichte. Der Fischer bekam am andern Tage wieder Zweifel und er trug sie so lange herum, bis es wieder Nacht war.

Und zum dritten Male ging der Fischer am Thorbogen vorüber und zum dritten Male stand der Bischof davor, jetzt aber zürnenden Antlitzes. Er sprach: »Wenn du mein Gebot wieder nicht verkündest, so ist dieser Tag dein letzter!«

Da hatte alles Zögern ein Ende. Der Fischer machte augenblicklich die Anzeige. Das vermauerte Gewölbe, das früher zu einem Kohlenbehälter gedient hatte, wurde aufgebrochen und es fanden sich darin die Bildsäulen des heil. Martin und des heil. Johannes in unversehrtem Zustande.

Sie wurden im schönen Thale unfern der Kirchenruine aufgestellt und dort stehen sie noch, freilich jetzt sehr verstümmelt.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 294-296.
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