394. Der seltsame Gast.1

[407] (Mittermaiers) Sagenbuch 1850, S. 78.


Unter der Regierung des Sohnes des Siegers bei Giengen, Georgs des Reichen, soll sich Folgendes zugetragen haben. Zwei alte Leute wohnten zu Lauingen, doch obwohl sie ihr ganzes Leben lang rastlos gearbeitet und gespart hatten, waren sie dennoch auf keinen grünen Zweig gekommen und der Mann mußte, wenn er nicht im Winter frieren wollte, sein Holz im Walde selbst suchen. So war er eben einmal wieder in das Holz gegangen und wollte bei einer großen alten Eiche einen starken Ast aufheben, als vom Baume weg eine Schlange sich langsam herbewegte. Erschrocken ließ er den Ast fallen, um welchen sich nun die Schlange wand. Der Mann wollte das große Stück Holz nicht gerne im Stiche lassen und versuchte das Thier auf jegliche Art zu verscheuchen; doch es gelang ihm nicht, und auch am folgenden Tage sah er die Schlange wieder auf dem Ast, und als er denselben muthig anfaßte, bewegte sie sich schmeichlerisch mit dem Kopfe gegen seinen Arm. Schnell schleuderte er den Ast hinweg und ging nach Hause, indem er seinen unweit liegenden Reisigbündel auf die Achseln nahm. Zu Hause wollte er eben seinem Weibe das seltsame Ereigniß erzählen, als sie ihn mit dem Ausrufe: Herr Jesus, was ist das! unterbrach, und siehe da, die Schlange war aus dem Reisigbündel gesprungen und spielte mit der Hauskatze. – Die guten Leute glaubten nun steif und fest, die Schlange müsse einst ein Mensch gewesen sein und eines Verbrechens wegen nach dem Tode dessen Seele in den Thierleib gebannt worden sein.

Das Thier erhielt von ihnen Nahrung und lebte friedlich und harmlos mit ihnen. Aber wunderbar, mit ihm schien wirklich Glück und Segen in die Hütte des Armen gezogen zu sein. Er erhielt reichlichen Taglohn und wenn er etwas verkaufte, war sein Erlös weit größer, als erwartet werden konnte. Die beiden Leutchen durften sich bald nicht mehr so[408] plagen und lebten noch lange in einem glücklichen und zufriedenen Stillleben. Als sie aber starben, war die Schlange verschwunden und Niemand wußte, wo sie hingekommen.

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Dieser wunderlichen Sage, die sich bis auf den heutigen Tag im Volksmunde erhalten, erwähnt auch der Doktor Senftius in seiner merkwürdigen, aus dem fünfzehnten Jahrhunderte herrührenden Selbstbiographie.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 407-409.
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