444. Kunissa von Diessen.

[464] Weilheimer Wochenbl. 1846. Nr. 50.


Kunissa, oder Kunigunda, Kaisers Otto des Großen Enkelin, wurde von ihren Eltern, die zu Oeningen am Bodensee wohnten, an Friedrich den Zweiten, Grafen zu Andechs, vermählt. Dieser zog nach dem heiligen Lande und endete sein Leben daselbst. Kunissa faßte den Entschluß, ihr Hab und Gut zu dem Dienste der Religion zu weihen, nur das Nöthige zum Lebensunterhalt behielt sie zurück. Also erhob sich zur Zeit Kaiser Heinrichs des Heiligen an dem Flecken Diessen das Gotteshaus St. Stephan mit einem Kloster auf Kunissa's Geheiß und Kosten.

In diesem Gotteshause ließ die Stifterin gegen Niedergang der Sonne eine kleine Zelle für sich errichten, um daselbst dem Gottesdienste beiwohnen, und sich der Andacht ungestört überlassen zu können.

So oft nun die Chorherren am frühesten Morgen die Mette sangen, kam auch die fromme Kunissa von ihrem ob dem Walde gelegenen Schlosse Wengau, in Begleitung einer Magd zur Kirche herab. Es pflegte sich die Thüre jedesmal von selbst zu öffnen. Einmal machte sie sich bei regnerischem Wetter auf den Weg. Das Bächlein, über welches sie zu gehen hatte, war angeschwollen. Da zog Kunissa einen Pfahl aus der Umzäunung eines Grundstückes, um über den Bach zu setzen. Als sie darauf an das Gotteshaus gelangte, fand sie wider Erwarten die Thüre geschlossen. Sogleich kam ihr in den Sinn, dieß sei des Himmels Strafe, weil sie fremdes Gut angerührt habe. Da trug sie den Pfahl dahin zurück, wo sie ihn genommen hatte, worauf sie die Pforte der Kirche wie sonst geöffnet fand.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 464-465.
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