52. Was ein Vaterunser werth ist.

[49] Von TheodorHolscher. – Mündlich, u. B. Mertel u. G. Winter Gesch., Sagen u. Leg. d. Bayerlandes I., 64.


Zu Augsburg an dem Palast des Bischofs steht ein Mann,

Dem wird jedweden Mittag die Pforte aufgethan.

Dann reicht der Küchenmeister auf seines Herrn Gebot

Dem greisen Bettelmann ein reichlich Mittagbrod.

Und dieser nassen Auges verzehret das Geschenk,

Und betet drei Vaterunser des Gebers eingedenk.

Einst drang manch trübe Mähre bis zu des Bischofs Ohr,

Daß er darob den Frohsinn und alle Ruh verlor.

Er wandelte, um sich zu erheitern, hinaus in den duftigen Mai,

Da führt ihn seine Straße an dem greisen Bettler vorbei.

»Sieh da,« so sprach Sankt Ulrich, »wie geht es dir mein Gast?«

»Wie immer, Euer Hochwürden,« sprach der Alte ernst und gefaßt.

»Mir geht es nicht wie immer,« entgegnet Jener, »mir kam

So manche Kunde gestern, die alle Ruh mir nahm.

Vergessen hast du sicher zu beten gestern für mich

Die heiligen Vater unser, doch speis ich täglich dich.«[49]

Der Bettler sprach: »o Vater, ich betete gestern nicht,

Denn euer Küchenmeister der machte ein finster Gesicht,

Als ich erschien, und murrte und wies mich von der Thür:

Such' heut' dein Brod wo anders, heut' findest du nichts hier.«

Und zornig kehrt der Bischof zurück in den Palast,

Beschied vor sich zur Strafe den Küchenmeister in Hast,

Und sprach: »Sieh' an, welch Elend und welches schwere Kreuz

Du über mich gehäufet durch deinen bösen Geiz!«

Der Küchenmeister trotzig und allzudreist fragt frei,

Ob an einem Vaterunser so viel gelegen sei.

»Was?« ruft entrüstet der Bischof, »du fragst noch also kühn?

Wohlan, du sollst mir nach Roma zum heiligen Vater ziehn,

Den sollst du fragen, wie viel wohl ein Vaterunser sei werth.

Und seine Antwort bringst du, dann sei dir Verzeihung gewährt.« –

Und als er kommt nach Roma in vieler Pilger Chor,

Geht er zum heiligen Vater und legt die Frag ihm vor:

Wie viel ein Vaterunser an Gelde wohl sei werth?

Der spricht: »ein Vaterunser eines güldnen Pfennigs ist werth.«

Der Küchenmeister brachte Sankt Ulrich den Bescheid,

Der fragt: »Der gülden Pfennig, wie breit ist er, wie breit?«

So muß nach Roma wieder der Küchenmeister zurück

Und geht zum heil'gen Vater und fragt mit trübem Blick:

»Wie breit ist der güldne Pfennig, der ein Vaterunser werth?«

Der Papst versetzt: »er ist wohl so breit wie die ganze Erd.«

Als das Sankt Ulrich hörte, sprach er mit ernstem Blick:

»Doch kannst du mir auch sagen, der güldne Pfennig wie dick?«

Da murrte der Küchenmeister, doch weil er es nicht wußt,

Hat er zum dritten Male gen Roma wandern gemußt.

Und als den Papst er fraget: der Pfennig von Golde rein

An Werth ein Vaterunser, wie dick der müsse sein?

Da tönt's: »So weit der Himmel entfernt ist von der Erd,

So dick sei der goldne Pfennig, der ein Vaterunser werth.

Denn was der Mensch gewinnt, woran er labet den Muth,

Ein andächtig Vaterunser ist besser als alles Gut.«

Beschämet kehrt zum Bischof der Küchenmeister zurück

Und bringt ihm diese Antwort mit niedergeschlagenem Blick.

Da sprach der heilige Ulrich und hub zu reden an:

Nun siehe, solchen Schaden hast du mir angethan;

Drum geh' und schätze künftig ein Vaterunser mehr

Und gieb dem Bettler wieder die Gabe zu Gottes Ehr,

Daß er andächtig bete, so oft er das Geschenk

Genießt, drei Vaterunser, des Gebers eingedenk.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 49-50.
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