61. Das Weidwiesenweiblein bei Reichenhall.

[58] L. Steub aus dem bayr. Hochlande. S. 170.


In den Jahren 1782 und 1783 ging in hiesiger Gegend viel Gerede von dem Weidwiesenweiblein. Es war dieß ein ganz winziges Weiblein mit schwarzem Gewande und mit einem kleinen Tiegel in der Hand, in welchem ein Lämpchen brannte. Das Gesicht sah man nicht, man meinte eher, sie hätte keines, denn ein großer Hut lag ganz flach auf ihren Schultern. Wenn nun die Leute bei Nacht über die Weidwiesen nach Hause gingen, so war oft auf einmal, und ohne daß man sehen konnte, woher es gekommen, das Weidwiesenweiblein da, ging nebenher und leuchtete ihnen. Dieß that sie meistens recht getreulich und zuverlässig, zuweilen aber, wenn es ihr so ankam, führte sie die Leute an ganz abgelegene Oerter, wo sie gar nicht hin wollten, ließ sie da stehen, und war nicht mehr zu erschreien. Sie sprach nichts und doch hatte Niemand einen Schrecken vor ihr, vielmehr kam es allen so vor, als wenn es so sein müßte, gab ihr auch Niemand einen Dank für ihre Begleitung. Einmal aber zerbrach einem Fuhrmann in finsterer Nacht beim Kalkofen ein Rad, und da stand plötzlich das Weiblein neben ihm und leuchtete mit einem Lämpchen. Dem Fuhrmann war dieß ein großer Trost und er sagte deßwegen: »tausend Dank!« Darüber sprach das Weiblein voller Freuden: »Hätte an einem Dank schon genug gehabt; jetzt sieht mich Niemand mehr,« und war verschwunden. Hatte auch ganz Recht, denn von dieser Stund' an hat sie Niemand mehr gesehen.

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Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 58.
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