497. Die Burgruine Rabenschaichen.

[36] Mündlich.


Wenn man auf der Straße von Kempten nach Memmingen das Dorf Hirschdorf hinter sich hat, sieht man, etwa eine Viertelstunde unterhalb dieses Dorfes, links neben der Straße am nahen Waldsaume, die Ruinen einer zerfallenen Burg, über welche junge Birken und Tannen emporragen. Daneben steht ein Weiler, von mehreren zerstreuten Häusern gebildet, welches bis auf den heutigen Tag den Namen von dieser Burg »Rabenschaichen« trägt. Hier hauste in alten Zeiten ein gar ungebärtiger Ritter, der Schrecken der ganzen Gegend. Zogen die Ulmer Kaufleute mit ihren Waaren aus Welschland des Weges fürbaß, da lauerte Kuno mit seinen wilden Gesellen im Gehölze, plünderte die Reisigen oder ließ[36] sich das Weiterziehen mit blankem Golde bezahlen. Seine Grundholden bedrückte er auf alle Weise; kam ein Bettler an die Schloßpforte, so hetzte er seine zottigen Rüden nach ihm und sah mit Hohngelächter zu, wenn sie ihn recht übel zurichteten. Das unrecht aufgehäufte Gut ward dann in schwelgerischen Gelagen verschwendet, wobei die geraubten Weinfässer, wenn sie ihres feurigen Inhaltes entleert waren, unter dem Gejauchze der Zechenden in den Burggraben hinabgerollt wurden. So trieb er das wilde Raubhandwerk viele Jahre, fragte nichts nach Gott und nach den Menschen, und so kühne Abentheuer er auch unternahm, immer kehrte er siegreich von jedem Strauße heim, so daß es allum hieß: »Ritter Kuno hat seine Seele dem Teufel verschrieben, drum richtet Keiner etwas mit ihm aus!« – Plötzlich stirbt er um die Mitternachtsstunde, von einem blutigen Raube heimgekehrt. Seine Gesellen tragen den Leichnam in das oberste Gemach, von dessen Söller Kuno auf die an der nahen Straße Vorüberziehenden Spähe zu halten pflegte. Indeß sie im Erdgeschoße über der Theilung der angehäuften Schätze hadern und lärmen, erschallt plötzlich um die Zinne der Burg ein kreischendes Gekrächze einer Schaar Raben, welche bald durch die geöffneten Fenster in das Todtengemach hineinfliegen und mit wüthendem Geschrei das Antlitz des Verstorbenen zerfleischen. Die Todtenwächter vermochten sie erst zu verscheuchen, als von dem vollstrotzenden Gesichte nur mehr die nackten Knochen aus dem Leichentuche hervorgrinsten. Die Zechenden im Hofe ergriff kalter Graus; sie ahnten Gottes Strafgerichte, vertheilten die geraubten Güter unter die Armen oder vergabten sie an Kirchen, und überlieferten das Raubnest den Flammen, welche es bis auf das Erdgeschoß verzehrten, das noch heute in seinen Trümmern die Erinnerung an diese Sage aufbewahrt in seinem Namen »Rabenschaichen.«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 36-37.
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