612. Wie eine Geis einen Wolf fing.

[158] Mündlich.


Vor alten Tagen war die Bamberger Straße auf dem Fichtelgebirg von einem langen, langen Wald umgeben. Wo jetzt das Dörfchen Kaltenhausen steht, war damals nur ein Wirthshaus und daneben stand eine Kapelle, damit man mitten auf dem langen Wege Leib und Seele stärken konnte. Kam nun einmal ein Metzger mit einer Geis daher, und da er nicht Lust hatte zu beten, sondern Durst zum Trinken, band er seine Begleiterin an die offenstehende Thüre der Kapelle, die herauswärts aufging, und ging sorglos in das Wirthshaus. Aber während er seinen Durst löschte, wollte ein Wolf seinen Hunger stillen. Die Geis machte in ihrer Angst einen Sprung in die Kapelle, der Wolf flugs hinterdrein; da jene aber, weil sie angebunden war, die Thüre hinter sich zuzog, waren beide gefangen. Dem Wolf war es in der Kapelle wohl nicht recht erbaulich zu Muthe, vielleicht ebenso der Geis, aber in der Kirche thun ja auch die erbittertsten Feinde unter den Menschen einander nichts. Der Wolf heulte und wurde gehört, die Geis mäkerte und wurde erhört, denn ihr Widersacher wurd bald gefangen. – Von dieser Kapelle sind nur noch unbedeutende Ruinen vorhanden.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 158.
Lizenz:
Kategorien: